Der unverhoffte Champion

Nachdem Jan Ullrich gewohnt mürrisch die Ehrung als neuer Zeitfahr-Weltmeister über sich ergehen ließ, will er sich morgen seinem eigentlichen Ziel widmen: dem Titelgewinn im Straßenrennen

aus Lissabon MARTIN KRAUSS

Mürrisch sah Jan Ullrich aus. Er war ja auch schließlich gerade zum zweiten Mal in seiner Karriere Weltmeister der Profis im Zeitfahren geworden. Nach drei Fragen wollte er schon die versammelten Journalisten verlassen, doch die Veranstalter der Rad-WM in Lissabon baten ihn, noch zwei weitere Fragen zuzulassen, und eine davon rankte gleich ums Thema Doping. Da hatte Ullrich erst recht genug. „Die Frage gehört nicht hier hin“, gab er genervt von sich. Als er die zur Pressekonferenz umgebaute Turnhalle endlich verlassen durfte, lächelte er dann doch. „Das ist auf alle Fälle ein Riesenerfolg“, gab er von sich, „ich habe ja gar nicht fürs Zeitfahren trainiert. Ich konzentriere mich aufs Straßenrennen.“

Am Sonntag muss er 21 kleine Runden im Parque Florestal de Monsanto absolvieren, am Donnerstag beim Zeitfahren waren es zwei große Runden, die letztlich 38,7 Kilometer ausmachten, freilich mit für einen städtischen Park ungewöhnlichen 800 Höhenmetern. „Das war ein kleines Bergzeitfahren“, meinte Ullrich und analysierte seinen Erfolg: „Was mir sehr geholfen hat, war, dass ich die erste Runde nur mit 95 Prozent gefahren bin. Das hat mir die Kraft gegeben, doch noch zu gewinnen.“ Das ganze Rennen über war der im Schwarzwald lebende Rostocker nur Dritter oder Vierter gewesen, immer zehn, fünfzehn Sekunden hinter den Zeitfahrspezialisten David Millar (Großbritannien) und Santiago Botero (Kolumbien).

Gegen Ende des Rennens begann Ullrich, von seinem Teamchef beim Telekom-Rennstall, Rudy Pevenage, angetrieben, mit einer furiosen Aufholjagd. „Etwa acht Kilometer vor dem Ziel wussten wir, dass er es schaffen kann“, sagte Olaf Ludwig, bei der Rad-Weltmeisterschaft als Vizepräsident des Bundes Deutscher Radfahrer für die Profis zuständig, im Hauptberuf Pressesprecher des Team Telekom. „Gerade zwischen Kilometer 32 und 36 muss man etwas zulegen können“, erklärte Ludwig die Taktik im deutschen Lager: „Wer nach der ersten Runde keine Reserven mehr hatte, konnte auch nicht gewinnen.“

Ullrich hatte, und er legte ab diesem ominösem Kilometer 32 zu, verkürzte den Abstand sukzessive und kam letztlich mit sechs Sekunden Vorsprung auf Millar und knappen zwölf Sekunden auf Botero ins Ziel. Im Zielbereich, der ein wenig an eine Boxengasse in der Formel 1 erinnert, gab er hastig erste Interviews und ließ sich unwillig beim Umziehen filmen. Dass er diesen Teil der Weltmeisterkür weniger genoss, war offensichtlich.

Es liegt aber vielleicht auch daran, dass der Start-Zielbereich bei dieser Rad-WM in einem der wenigen hässlichen Bezirke liegt, die die Stadt Lissabon zu bieten hat. Der Parque Florestal de Monsanto, durch den sämtliche Strecken führen, ist groß und könnte schön sein, wenn es denn jemanden gäbe, der sich um ihn kümmerte. So ist er aber nur eine Grünfläche, an dem die Eisenbahn vorbeirattert, wo man nur eine von zwei Schnellstraßen für die Rad-WM gesperrt hat, weshalb die andere umso voller ist, und wo am Rande Häuserblocks stehen, die nicht nur Ullrich eher an Rostock-Lichtenhagen erinnern dürften, denn an das portugiesische Sprichwort: „Wer nie Lissabon gesehen hat, hat noch nie etwas Schönes gesehen.“

Jan Ullrich hatte sich vor seinem Rennen bewusst nicht im Teamlager warmgefahren, sondern im Hotelzimmer und war erst kurz vor seinem Start eingetroffen. Für die Hässlichkeiten und Schönheiten hatte er keinen Sinn, und vermutlich realisierte er auch nicht, dass, als er auf der kleinen Startrampe stand, auf seiner Rennmaschine hockend und aufs Startsignal wartend, vor seinen Augen gerade eine Lufthansa-Maschine ihren Landeanflug begann. Und dass, als alle Fahrer auf der Piste waren, die Veranstalter der WM die portugiesische Version des Beatles-Klassikers „Yesterday“ laufen ließen, hat er wohl auch nicht gehört. Vermutlich wurde er Weltmeister, weil er diese kleinen Symbole schlicht ignoriert hat.

Morgen, wenn zum Abschluss der WM in diesem Park das Hauptrennen der Männer über 254,1 Kilometer stattfindet, wird Jan Ullrich wieder der große Favorit sein, und erstaunlich unmürrisch akzeptiert er dies auch: „Da will ich schon mitmischen. Das Training hat sich ja jetzt schon gelohnt, und ein Trikot habe ich ja schon mal.“