Hinten das Leben, vorne der Tod

■ Oder umgekehrt? Carsten Werner inszeniert im Jungen Theater die Selbstmörder-Liebesgeschichte „norway.today“ von Igor Bauersima. Da geht es frostig zu bis die Liebe kommt und sich mit an den Abgrund stellt

Ziemlicher Fake, das Leben, eigentlich. Und aus so 'nem Fake tritt man doch easy ab, oder? Findet jedenfalls August. August ist neunzehn und trifft im chatroom (wo denn sonst?) auf Julie, die kaum älter sein dürfte und jemanden sucht, der mit ihr zusammen schlappe 600 Meter tief von einer norwegischen Klippe springt. Man wird sich einig. Smile!

Inspiriert von einer Notiz im „Spiegel“ hat der tschechisch-russische Autor Igor Bauersima vor gut einem Jahr sein Stück „norway.today“ geschrieben und die Uraufführung in Düsseldorf selbst inszeniert. Beides offenbar mit ziemlichem Erfolg. Das Zwei-Personen-Selbstmörder-Stück wird in der laufenden Spielzeit schätzungsweise an jedem zweiten deutschen Theater nachgespielt, von Magdeburg bis Hannover, von München bis Lübeck, alle wollen norway.today. Und jetzt also auch das Junge Theater in Bremen.

In der weiten Halle des Güterbahnhofs ist der Winter angebrochen. Styropor-Eisblöcke als Sitzbänke für's Publikum, als Bühnenbild ein weiteres Arrangement aus weißen Klötzen, bestreut mit Puderzuckerschnee. Von der schrägen Riesenleinwand lächeln frostig abwechselnd Claire Danes und Leonardo di Caprio als Romeo und Julia.

Symbolträchtig, durchaus. Denn norway.today ist, wie sich später herausstellen wird, sehr wohl auch eine Liebesgeschichte, keine klassische vielleicht, aber dennoch eine, in der es um Leben oder Tod, um den gemeinsamen Tod, geht. Hallo Romeo, hallo Julia. Allerdings befinden wir uns im 21. Jahrhundert, und da funktioniert das alles nun mal ein bisschen anders. Da hat man auf seinem T-Shirt seine e-mail-Adresse stehen und vereinbart Treffpunkte im Internet. „Wenn du auf meine Homepage kommst, wartest du eine Weile, ob dir niemand gefolgt ist. Dann hol ich dich ab. Smile!“, lässt Julie August wissen, nachdem der Selbstmord-Pakt geschlossen ist.

Und plötzlich ist man im Eis. Dick eingemummelt in Mantel und Stirnband, bepackt mit Disc-man, Ghettoblaster, Skiern und Zelt stapfen Julie und August auf dem Weg zum Abgrund durch die norwegisch-bremische Güterbahnhof-Schneelandschaft, äußerst atmosphärisch eingehüllt in Bühnennebelschwaden, stimmungsvoll beleuchtet und mit den wunderbar melancholischen Klängen des Musikers Jan H. Klug unterlegt. Wow. Solche spannungsvollen, intensiven Momente gelingen Regisseur Carsten Werner und seinen beiden Darstellern Denis Fischer und Andrea Liebezeit zwar nicht immer, aber immer wieder. Über weite Stecken bieten sie einen so glaubwürdigen, überzeugenden Schlagabtausch zwischen der cool-distanzierten Julie und der hibbeligen Quasselstrippe August, dass man zwischenzeitliche Längen und unnötige Pausen ebenso verzeiht wie die ziemlich mangelhafte Akustik im Güterbahnhof, die oft ganze Sätze verschluckt.

Wunderschön rührend dann die große Liebesszene gegen Ende, wenn Julie und August sich langsam annähern und sich vorstellen, wie es wäre, miteinander zu schlafen. „Ich würde meine Hand so auf die Innenseite von deinem Oberschenkel tun“, überlegt Julie, die von Andrea Liebezeit mit einer gut dosierten Mischung aus Überheblichkeit und Sensibilität ausgestattet wird. Und Denis Fischers großer, naiver Schuljunge August gesteht verschüchtert: „Das würde mich vermutlich ziemlich...irritieren.“

Genauso, wie ohnehin die ganze Situation ziemlich irritierend ist. Während sie am nächsten Morgen immer verzweifelter versuchen, die richtigen Worte für das perfekte Abschiedsvideo zu finden, müssen sie schließlich feststellen, dass das Leben wohl doch nicht nur Fake ist und „das alles“ durchaus ernstzunehmen. Oh je. Sollte man sich jetzt überhaupt noch umbringen? Und wenn ja, warum eigentlich? Am Ende stehen Julie und August glücklich am äußersten Rand der Klippe und küssen sich - hinter ihnen das Leben, vor ihnen der Tod. Oder doch umgekehrt?

Bodil Elstner

Das Junge Theater spielt norway.today von 18. bis 21. Oktober, vom 24. bis 28., am 30. und am 31. jeweils um 20.30 Uhr. Kartenvorbestellungen unter 700 141