Demonstrieren ist nicht umsonst

Zwei Mark kostet der Button zur Demo. In Berlin suchte die Friedensbewegung den Brückenschlag zwischen alten Freunden und jungen Kriegsgegnern

aus Berlin STEFAN KUZMANY

Für Melinda (14) und Charlott (15) ist das heute die erste richtige Großdemo. Das sieht man den beiden Berliner Schülerinnen auch an. Sie haben kein Transparent mit eigenen Forderungen dabei. Sie haben keine Friedenstaube ans Revers gesteckt, und auch keinen Button mit „Petting statt Pershing“ drauf. Es fehlt das Batik-Hemd und das Palästinenser-Tuch. Kein „Linksruck“-Aufnäher und keine Jute-Tasche der MLPD. Jeans, T-Shirt, Turnschuhe: in ganz normaler Straßenkleidung sind sie zum Brandenburger Tor gekommen, um am heutigen Samstag von hier aus gegen den Krieg zu marschieren. Die beiden Mädchen besuchen die 9. Klasse des Oranke-Gymnasiums in Hohenschönhausen, doch auch hier können sie etwas lernen. „Auch Tiere brauchen Frieden“, steht auf dem ersten Handzettel des Tages.

„Man sagt immer Amerika und meint die USA. Damit leistet man schon dem Imperialismus Vorschub“, sagt der Mann am Megaphon. „Demonstrieren ist nicht umsonst. Das kostet hier was“, sagt Monika Nur (54) von der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit. Einen blauen Eimer in der Hand und Engagement im Blick, fordert sie zwei Mark, soviel kostet der Button zur Demo. Für die beiden Schülerinnen kramt sie Buttons aus ihrem Eimer hervor, denen die Plastikfolie fehlt: „Die sind nicht so schön geworden, die geb' ich Euch für eine Mark.“

Hoffen, dass es nützt

Es geht los, Richtung Gendarmenmarkt zur Hauptkundgebung. „Der Wagen muss hier durch! Ihr mit ,Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit' bitte nach links, ,Keine Ver-Heerungen' bitte nach rechts!“, schnarrt das Megaphon, und die beiden Mädchen hoffen, „dass es was hilft. Dass mal jemand nachdenkt. Krieg ist auf jeden Fall keine Lösung gegen den Terror.“

Der Spaziergang durch die Innenstadt beginnt mit einem kleinen Stau unter dem Brandenburger Tor. Ein Familienvater schwärmt von früher: damals, beim großen Sternmarsch, als da diese Gießener Gruppe um die Ecke gekommen ist, denen ging einer voran, der spielte Dudelsack. Das war ein tolles Gefühl, die Musik, die Leute: „Ein richtiges Prickeln. Wann war das gleich? Ach ja, 1984 beim Ostermarsch“. Weder Melinda noch Charlott wollen sich groß politisch engagieren, sagen sie, jedenfalls nicht bei einer der Berliner Parteien: „Die sind mal pro und mal contra.“ Sie sind halt gegen den Krieg. Wie alle ihre Freunde.

Voll, aber nicht überfüllt

Junge Menschen, oft Anhänger der marxistischen Leninisten von der MLPD, versuchen mit Megaphonen und rollbaren Lautsprechern, Parolen in aller Munde zu bringen. Es bleibt beim Versuch. Kaum jemand will „Gehen wir gemeinsam vor – gegen Bushs New War“ skandieren. Auch „Kein Kriegseinsatz der Bundeswehr – Schröder, Fischer, hört ihr schwer?“ zieht nicht, kaum auch „Frieden für Afghanistan – gegen Bush und Taliban“. Selbst der Klassiker „Hoch – die – internationale – Solidarität“ verhallt nach wenigen Wiederholungen. „Ist das ’ne Demo oder was?“, mault enttäuscht der Aktivist ins Mikrophon. „Einen Schweigemarsch könnt ihr euch wohl nicht vorstellen?“, will eine elegant gekleidete Frau von einer jungen MLPD-Anhängerin wissen. Die Jugendliche skandiert trotzig weiter. „Warum schreit ihr so? Ihr seht doch, dass wir mitgehen“, fragt die Alte. Die Junge kontert: „Aber das sind doch Forderungen! Die müssen gehört werden!“

Der Gendarmenmarkt ist voll, aber nicht überfüllt. An den Transparenten läßt sich das breite Spektrum Demonstranten ablesen: viele sind „gegen Krieg“ oder „gegen Bomben“, Erfahrene „gegen Imperialismus“. Höchstes Umweltbewußstsein demonstriert die ÖDP. Ihr Transparent ist mit Laschen benäht und daher für austauschbare Botschaften geeignet; „neue loesungen gesucht“, steht heute drauf.

Als erster Redner tritt Sebastian Schlüsselburg von der Bundesschülervertretung auf. Im Publikum sind viele Berliner Schülerinnen und Schüler. Ihnen wird heute besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Immer wieder danken die Redner den Schülern für ihre Pionierleistung vom vergangenen Montag, als sie während der Unterrichtszeit gegen die amerikanischen Militärschläge demonstriert haben. Die Moderatorin Jutta Kausch meldet „über 50.000“ Teilnehmer. Großer Jubel, als sie eine Solidaritätsadresse von Joan Baez und Harry Belafonte verliest, „vereint im Geist von Martin Luther King und Ghandi“. Eine Demonstrantin im modischen Hosenanzug zupft aufgeregt ihren Begleiter am Ärmel und hüpft dabei auf der Stelle: „Kuck mal!“ Da ist einer auf einen Laternenmast geklettert und schwenkt eine rote Fahne mit den schwarz gedruckten Gesichtszügen des großen Vorsitzenden Mao Tse Tung. In noch größerer Höhe, auf der Kuppel des französischen Domes macht sich ebenfalls ein Demonstrant zu schaffen, seine gelbe Montur leuchtet in der Nachmittagssonne.

Am Mikrofon: das „Aktionsbündnis für ein anderes Berlin“. Das Bündnis wollte heute eigentlich gegen die soziale Ungerechtigkeit demonstrieren, aber der Krieg kam dazwischen. So nutzt ihr Sprecher eben diese Gelegenheit, um scharf seine Stimme zu erheben wider den Stellenabbau in städtischen Krankenhäusern. Die ersten Schüler wandern ab.

Plötzlich aufgebrachte Rufe, alle Blicke wenden sich zum Französischen Dom. Oben an der Kuppel prangt ein meterlanges Transparent der NPD. Empörung. Die Kundgebung stockt. Und mit einem Mal ist es da, das Gefühl der Identität. Er ist da, der Spruch, den alle rufen wollen. „Nazis raus! Nazis raus!“, skandiert der ganze Gendarmenmarkt, und: „Runter holen!“ Die Moderatorin fordert die Demonstranten auf, sich wieder der Kundgebung zuzuwenden: „Hier werden die wichtigen Dinge gesagt.“ Doch sie findet vorerst kein Interesse. Ein kletterbegabter NPD-Feind ist schneller als die Polizei oben auf der Kuppel und reißt unter dem Jubel der Anwesenden das Transparent der Rechten ab. Applaus brandet auf, als er es in die Tiefe wirft. Die verspäteten Beamten ernten nur noch Gelächter. „Deutsche Polizisten schützen die Faschisten“, ruft ein junger Mann mit langen, blonden Haaren und einem Palästinensertuch um den Hals mit sich überschlagender Stimme in sein Megaphon. Doch es mag ihm niemand folgen. „Stimmt doch.“, beharrt er.

Stehen gegen den Krieg

Die MLPD wirbt an ihrem Infostand für ein Buch mit dem Titel „Sozialismus am Ende?“ Wie die Antwort auf diese Frage für die MLPD ausfällt, muss man eigentlich nicht nachlesen. Genauso wenig, wie man sich noch die Redebeiträge des Friedensratschlages Kassel oder der katholischen Friedensorganisation Pax Christi anhören muss. Alle wissen doch, warum sie hier sind: „Aufstehen gegen den Krieg“ wollten sie, das war das Motto der von über hundert Gruppen getragenen Veranstaltung. Und jetzt stehen sie schon über drei Stunden gegen den Krieg, da leidet die Konzentration, denn das Wetter ist schön, und es sind viele Bekannte da. „Hallo Marlies!“, ruft eine junge Frau überrascht, als sie ihre Freundin entdeckt. „Mensch sieht ja toll aus, habe ich ja noch gar nicht gesehen!“ Mahnend, den Ernst der Weltlage im Timbre, zitiert die Brecht-Schülerin Käthe Reichel (75) die alte Weisheit über Karthago nach drei Kriegen. „Wie lange hast Du denn die Haare schon so?“, fragt die Freundin. Hinter der Bühne korrigiert der Pressebetreuer Jens-Peter Steffen von der Organisation Internationale Ärzte zur Verhütung eines Atomkrieges die Teilnehmerzahlen: „Ungefähr 30.000 bis 35.000.“ Er freut sich über den heutigen „Brückenschlag“ zwischen jenen, denen „nachgesagt wird, ewig gestrig zu sein, in den Achtzigern hängengeblieben“ und jenen ganz jungen Kriegsgegnern, die noch zur Schule gehen.

Als fast alle schon gegangen sind, ist da noch Monika Nur von der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit. Erschöpft, aber glücklich sieht sie aus. Fünf- bis sechshundert Buttons konnte sie heute verkaufen, „ausgesprochen viel“. Münzen klimpern in ihrem Eimer. Ein Straßenzeitungsverkäufer spricht sie an. Und eine Bosnierin mit Kopftuch und Pappschild. Monika Nur gibt beiden. Jetzt, sagt sie, könnte es wieder neue Strukturen geben in der Friedensbewegung, könnten sich die Menschen in den Betrieben zusammentun und Friedensgruppen bilden, könnte „die schweigende Mehrheit, die gegen den Krieg ist“, ihre Stimme erheben. Die ganze Woche hat sie Buttons vorbereitet, jetzt braucht sie etwas zu trinken. Und dann wird sie heimgehen und Nachrichten sehen – sie will wissen, wie viele es waren, die heute gegen den Krieg demonstriert haben. Die „Tagesschau“ wird melden: 15.000 in Berlin.