Herrin und Knechtinnen

■ Räume“: Orte der Selbstdarstellung, belebt von Menschen – oder ihren Platzhaltern Wieder da: Am Bremerhavener Stadtheater werden nach genau 40 Jahren „Die Zofen“ von Jean Genet erneut aufgeführt – nun allerdings emotionslos

„Wir gewinnen Gestalt, gnädige Frau!“, sagen die beiden Zofen, die Schwestern Claire und Solange, während sie sich im Spiegel betrachten. Sie nutzen die Abwesenheit der Herrin für ein Spiel, in dem sie sich ihrer Kleider bemächtigen und die Rollen tauschen. Claire ist die „Gnädige Frau“, ihre ältere Schwester Solange ist Claire. Das Spiel soll eigentlich mit einem Mord enden, es soll den echten Mord an der echten Herrin vielleicht vorwegnehmen., Aber dazu kommt es nicht, denn die Herrin wird zurückerwartet. Sie wird real zurückerwartet, sie wird aber auch im übertragenen Sinne zurückerwartet: Der Platz des Herrn darf nicht frei bleiben. Und auch der der Herrin nicht.

Jean Genets „Die Zofen“ war bei seiner Pariser Uraufführung 1946 – und ein Jahrzehnt später in der Bundesrepublik – ein Skandalstück. Als der Einakter vor genau 40 Jahren im Kleinen Haus des Stadttheaters Bremerhaven zum ersten Mal gezeigt wurde, schrieb der Kritiker: „Was soll ich mit zwei lesbischen Mädchen, die nur lesbisch sind und sonst nichts. Mach den Vorhang zu und lass sie lesbisch sein.“ Dietrich von Oertzen, bis zum letzten Jahr Intendant des Lübecker Theaters, hat als Regisseur der neuen Inszenierung im Kleinen Haus jede Erinnerung an verstaubte Klagen dadurch unmöglich gemacht, dass er sich auf diese Seite des Stückes gar nicht erst einlässt. Er inszeniert „Die Zofen“ wie ein weit entferntes, kühl kalkuliertes Sprach-Spiel, aus dem fast alle Emotionen herausgefiltert wurden.

Mag sein, dass er mit dieser Distanz alle Klischees, alle leicht ins Peinliche rutschenden Überhitzungen vermeiden will. Er setzt auf Tempo, auf schnelle Wortgefechte zwischen den Schwestern und kappt jede erotische Nähe, die Genet in seinen Regieanweisungen verlangt. Soviel Zurückhaltung lassen Selma Baldursson als Claire und Isabella Wolf als Solange allerdings über weite Strecken blass erscheinen. Es will und soll ihnen nicht gelingen, ihren Figuren Ausdruck zu geben, der emotional berühren könnte. Erst als die Herrin auftritt – Christel Leuner als Karikatur einer alternden Filmdiva –, bremst der Regisseur das schnelle, kalte Spiel. Er setzt Pausen, denn jetzt geht es um einen möglichen wirklichen Mord. Doch die gnädige Frau rührt den vergifteten Lindenblütentee nicht an. „Ich entwische euch!“, sagt sie vieldeutig und verschwindet zu ihrem aus der Haft entlassenen Geliebten, den die beiden Zofen mit anonymen Briefen als Dieb denunziert hatten. Wieder allein, gestehen sie sich ihr Scheitern ein. Da entscheidet Claire, dem Spiel ein Ende zu setzen: Sie lässt sich – in der Rolle der Herrin – von Solange den Tee reichen.

Von Oertzen verklammert Genets bösen Blick auf die Zofen mit einer späten Tagebuch-Notiz des Schriftstellers, der sich zeitlebens als Außenseiter und Rebell begriffen hat. In einem Vorspiel sitzt Christel Leuner als Genet – im Pelzmantel – auf der Bühne. Ein nackter Theaterraum, wenige, zeichenhafte Requisiten: Im Hintergrund ein riesiger Haufen welker Friedhofsblumen, große Spiegel hängen von oben herab (Bild: Wolf Gutjahr). Er/sie erzählt die Geschichte einer Frau, die in einem Palästinenser-Lager wochenlang vor der Wache wartet, bevor sie einen Stapel Briefe abgibt. Wozu dieses Bild? Der Aufstand der stolzen Palästinenserin als Gegenstück zum Untergang der (europäischen) Zofen oder Verrat als Wiederholung des Immergleichen? Die biografische Klammer mag künstlich sein (die eingestreute orientalische Musik wirkt aufgesetzt), die kühle und etwas steife Inszenierung aber zeigt: „Die Zofen“ bleiben ein irritierendes, befremdendes Rätselspiel. In einer Zeit, in der der Graben zwischen Herren und Knechten keineswegs kleiner wird, schlägt Genet – und darin damals wie heute nicht pc – allen schönen Bildern vom aufrechten Gang der Unterdrückten ins Gesicht.

Hans Happel

Jean Genet: Die Zofen, Stadttheater Bremerhaven, Kleines Haus. Weitere Vorstellungen am 17., 21. und 25. Oktober