Anleitung zum Durchschauen

Absolut bombensicheres Politainment in schweren Zeiten: Stefan Müller inszeniert „Merkels Brüder“ am Maxim Gorki Theater und versucht mit seiner Aufführung, die Oberflächen und Äußerlichkeiten des Politzirkus lustig zu transzendieren. Konkrete Anbindungen an die Realität gibt es aber keine

Szenenfolge und Bühnenumsetzung knüpfen an Widmers „Top Dogs“ an

von EVA BEHRENDT

Alle zehn Jahre heißt es von neuem: Politik als repräsentatives Handeln weist eine strukturelle Verwandtschaft mit dem Theater auf. Doch auch wenn die Quantität vor allem der visuellen Repräsentation massiv gestiegen ist und den Schweißbegriff „Politainment“ produziert hat, bleibt die Rezeption historisch verblüffend konstant: Dass Politiker etwas über sich selbst Hinausweisendes darstellen müssen, wird allgemein akzeptiert. Nur wie sie diese Aufgabe bewältigen oder an ihr scheitern, welche Kriterien für eine gelungene Selbstdarstellung und Machtrepräsentation gerade Gültigkeit beanspruchen, variiert mit den Systemen und dem Zeitgeist.

Am ergiebigsten ist natürlich immer das individuelle Scheitern als Farce, Tragödie oder Kombipackung. Was wäre 2001 ohne Rudolf Scharpings Lustreisen auf die Balearen oder Wowereits Outing? Was wären die Neunziger ohne Lewinsky, die Achtziger ohne Barschel? Doch auch, wer das spektakuläre professionelle oder ästhetische Versagen, die entblößende Farce von sich abwenden kann, zahlt einen hohen Preis. Die Fotografin Herlinde Koelbl zeigte vor drei Jahren ihre Dokumentation der „Spuren der Macht“, die sich in die Körper der Volksvertreter gefräst hatten, und kitzelte in Interviews Bemerkenswertes aus den Befragten heraus: das Eingeständnis psychophysischer Korrumption durch Amt und Macht, tragischer Erkaltungs- und Verhärtungsprozesse, denen man mit Mitleid und Abscheu gegenüberstand und die die beklommene Frage provozierten, warum zunächst ganz vernünftige Leute sich das alles antun.

Aus Koelbls und anderen dokumentarischen Materialien haben der Schweizer Burgtheaterdramaturg Stefan Müller und Zeit-Reporter Hajo Kurzenberger die Textcollage „Merkels Brüder“ entwickelt, die gleichermaßen mit der Politik-Theater-Analogie und den persönlichen Politikerdramen spielt. Die lose Szenenfolge und ihre Bühnenumsetzung knüpfen ziemlich offensichtlich an Urs Widmers „Top Dogs“ an, mit deren Inszenierung Volker Hesse, der neue Gorki-Intendant, und Müller im Zürcher Theater am Neumarkt einen echten Hit landeten.

Damals ging es um die satirische Auslotung ausrangierter Managermentalitäten, die in Willensstärkungscamps für den freien Markt wieder fit gemacht werden sollten. Hesse und Müller trafen damit nicht nur den Nerv, ihnen glückte auch die Erfindung eines neuen Genres in der Grauzone zwischen Comedy und seriösem Schauspiel. So eng und blutsverwandt sich der Titel „Merkels Brüder“ auch an den realen Bundestag heranzukuscheln scheint, die Inszenierung strebt nach choreografischer Abstraktion. Die sieben Akteure ordnen sich in immer neuen Formationen um die spärlichen Requisiten – Konferenztisch, gläsernes Rednerpult, Ruhe-Insel auf der Drehbühne –, spielen typische Situationen vom Polittrainingslager über die peinliche Pressekonferenz bis zur innerfraktionellen Drohgebärde an, reproduzieren und parodieren das bekannte Gestenvokabular, ohne dabei konkrete Rollen zu spielen. Brücken zwischen den Szenen baut meist ein Song (Musik: Gerd Bessler), als visuelle Verstärker oder vielmehr Rettungsanker fungieren Videoeinspielungen (Chris Kondak) oder Live-Cams. Trotzdem schert der Galopp durchs gehobene Varietee zu selten ins Surreale aus: Wenn auf hohem Tempo Moritz von Uslars Hundert-Fragen-Interview mit Angela Merkel abgefeuert wird, wenn Ruth Reineckes XXL-Gesicht mit stumpfem Klageblick und tief herabgezogenen Mundwinkeln von der Leinwand herab das Publikum plattzuwalzen droht oder Joachim Meyerhoff Körper aus dem Joschka-Sound ausschert und die verbalen Verbiegungen mit leibhaftiger Verknotung überdreht.

Aber das sind Peanuts. Der große Rest lastet auf den schwächeren Säulen des politischen Kabaretts: die eher simple Komik sinnentleerten Phrasengedresches und von Menschen in Anzug und Kostüm, die Aerobic tanzen. Wo jedoch das Kabarett wenigstens aus seinem Aktualitätsbezug Kapital schlägt, verharmlost der Verzicht auf konkrete inhaltliche Anbindung den Gorki-Abend komplett. An keiner Stelle ist erkennbar, was das Theater der Realsatire eines zu sich selbst gelaufenen Außenministers mit APO-Vergangenheit und einer biederen CDU-Vorsitzenden aus dem Osten hinzuzufügen hat. Im Gegenteil. Der Versuch, den Politikerzirkus auf der Bühne anhand seiner Oberflächen und Äußerlichkeiten lustig zu transzendieren, suggeriert obendrein dessen Kontrollierbarkeit, bäckt ein warmes „Wir durchschauen euch, obwohl wir euch gewählt haben (und wieder wählen würden)“-Gefühl.

Sollte das Gorki mal knapp bei Kasse sein, lassen sich für derartig bombensichere Veranstaltungen bestimmt einschlägige Sponsoren finden.

„Merkels Brüder“, am 18., 19. und 24. 10., jeweils 19.30 Uhr. Im Maxim Gorki Theater, Am Festungsgraben 2, Mitte