Sex in the city

Opernhafte Übersteigerung am Rande des realen Wahnsinns: Die Freunde der Deutschen Kinemathek präsentieren im Arsenal mit ihrem Programm „Diva Divine – Göttliche Diven“ die große Zeit der italienischen Stummfilmheldinnen

So war das damals mit den Diven: „Wenn eine Dame einen Brief von ihrem Geliebten oder Ehemann erhält, darf sie ihre Freude nicht dadurch zeigen, dass sie das Schreiben küsst. Das ist übertrieben und durch den häufigen Gebrauch in Filmen und auf der Bühne abgeschmackt und langweilig geworden“ – eine von zwanzig detailierten Anweisungen für Schauspielerinnen aus dem Jahr 1910, herausgegeben von der amerikanischen Selig Polyscope Company.

Während in den USA breite Gesten schon zu dieser frühen Stummfilmzeit verpönt waren, wollte die italienische Filmkunst vom dramatischen Minenspiel der Theater- und Operntradition nicht lassen. Mit überstilisierten Posen, Gesten und Blicken brachten die Damen nach wie vor ihre stummen Arien auf die Leinwand und verschafften dem italienischen Kino – obgleich hier verhältnismäßig spät mit dem Filmemachen begonnen wurde – schnell internationalen Erfolg und seinen weiblichen Stars eine riesige Anhängerschaft. Das Phänomen hatte sogar einen Namen, „Divismo“, und war bereits durch die an modernen Fanwahnsinn erinnernde Huldigung an Theaterschauspielerinnen und Opernsängerinnen bekannt. Für ein Wiedersehen mit zehn „göttlichen“ Leinwandheldinnen jener Zeit sorgen derzeit die Freunde der Deutschen Kinemathek im Arsenal. In der Reihe „Diva Divine – Göttliche Diven“ werden insgesamt 16 italienische Stummfilme aus der Zeit 1915–1928 gezeigt, allesamt restaurierte Kopien der Cineteca di Bologna.

Dass diese Filme seinerzeit sogar in den in puncto Film „moderneren“ USA „funktionierten“, belegt eine Umfrage nach dem populärsten Filmstar aus dem Jahre 1923. An erster Stelle wurde nicht Amerikas „Sweatheart“ Mary Pickford genannt, sondern die Italienerin Francesca Bertini, deren Karriere kurz nach der Jahrhundertwende begann. In über hundert Filmen verkörpert die von dem Filmhistoriker Enno Patalas als „frische, gesunde, natürliche Dutzendschönheit“ bezeichnete Aktrice widersprüchliche, leidenschaftliche Frauenfiguren, die mit Vorliebe schwer vom Schicksal gezeichnet sind. Anfang der 20er-Jahre zog sich Bertini weitgehend aus der Öffentlichkeit zurück, heiratete einen Schweizer Bankier und ist nur noch selten auf der Leinwand zu sehen. Erst 1976 feierte sie ein kurzes, aber viel umjubeltes Comeback in Bernardo Bertoluccis „1900“. Ihren ersten über Italien hinausgehenden Erfolg hatte sie 1915 mit der Hauptrolle im Film „Assunta Spina“, wo sie auch bei der Regie mitwirkte. Dieses Melodram aus Neapel ist einer der wenigen „Diven-Filme“, der nicht nur Innenaufnahmen, sondern auch Straßen und städtisches Alltagsleben zeigt. „Assunta Spina“ zählt heute zu den Wegbereitern des italienischen Realismus.

Generell gelten Produktionen dieses Genres auch als Meisterwerke der Verhüllung. Die Kunst lag in der Andeutung. „Diese Filme bersten vor Sexualität, aber ohne sie zu zeigen. Das Spiel der Diven erscheint wie ein einziger großer Kuss“, schrieb beispielsweise der niederländischer Regisseur Peter Delpeut, dessen Dokumentation „Diva Dolorosa“ das ganze Repertoire großer Gesten und Gefühle beleuchtet.

Mit am besten beherrschte das Verhüllspiel Lyda Borelli, die aufgrund ihrer expressiven Körpersprache oft mit Asta Nielsen verglichen wird. Vor barocken Dekorationen, in kostbare Roben gehüllt, mit einer etwas überspitzten Darstellungsweise, spielt sie zumeist Frauen am Rande des Wahnsinns. Im wirklichen Leben heiratet Borelli 1918 einen venezianischen Grafen und zieht sich nach nur 15 Filmen von der Schauspielerei zurück.

Zu ihren schönsten Filmen gehört die 1915 entstandene „Rapsodia Satanica“ mit einer abenteuerlichen Handlung: Eine betagte Aristokratin schließt einen Pakt mit Mephistopheles. Er schenkt ihr ewige Jugend und Schönheit, sie soll dafür auf die Liebe verzichten. Einmal gibt die Sehnsüchtige jedoch nach und geht postwendend dem Tod entgegen.

Das Geschehen ähnelt eher einem Ballett oder einer Oper. Wie in vielen Produktionen des Genres steht auch hier das Ausdrucksspiel der Diva absolut im Vordergrund, getragen von Ausstattung und Bühnendekoration, die ganz der Mode der Zeit, Jugendstil und Symbolismus, entsprechen. Die Musik für „Rapsodia Satanica“ schrieb Mascagni – neben Puccini damals der bedeutendste Opernkomponist Italiens, der im Übrigen einiges mitzureden hatte: Um seine musikalischen Vorstellungen durchzusetzen, ließ er den dritten Teil des Films einfach neu drehen.

NINO KETSCHAGMADSE

Die Reihe „Diva Divine – Göttliche Diven“ läuft bis zum 21. Oktober im Arsenal am Potsdamer Platz