Thälmann soll wieder glänzen

Entschlossener Blick, die Faust zum internationalistischen Gruß geballt: Gigantisch erhebt sich das Ernst-Thälmann-Denkmal über den Prenzlauer Berg und verpflichtet die Anwohner zur Erinnerung. Unter ihnen formiert sich nun der Widerstand gegen die Graffiti-Sprüher. Eine Ortsbesichtigung

von KIRSTEN KÜPPERS

Das Schlimme passiert immer über Nacht. Das Ergebnis eines leise zischenden Geräuschs. Schattenhafte Gestalten sind es, die es erzeugen. Sie haben kein Gesicht; man weiß, dass sie jung sind, mehr nicht. Wie scheue Tiere wagen sie sich nur in der Dunkelheit aus den Untiefen der Großstadt heraus; in sich tragen sie eine Subversivität, die nichts anderes als Schaden anrichten kann, großen Schaden. So denken die Leute in der Hochhaussiedlung im Prenzlauer Berg.

Zuerst sehen die Schulkinder die nächtliche Tat, dann die Frauen, die ihre Einkaufstaschen über den weiten Platz tragen, dann die Rentner beim Rausgehen mit dem Hund. Das Böse sind bunte verschlungene Buchstabenketten oder unlesbare Kringel. Sie leuchten auf dem Bronze-Denkmal, das auf dem Platz vor der Grünanlage steht. Harmlose Zeichen. Aber weil sie dort nicht hingehören, machen sie das Denkmal kaputt. „Schweine“, schimpft eine alte Frau im Vorübergehen. Bis sie dem Monument den Rücken kehrt, wiederholt sie es drei Mal: „Schweine, Schweine, Schweine“. In einen ordentlichen Hass können sich die Bewohner des Ernst-Thälmann-Parks steigern.

Übermächtig und trotzig ragen der bronzene Kopf und die gestreckte Faust hoch hinauf in den grauen Oktoberhimmel: Unter den Schichten farbigen Sprühlacks sind die wuchtigen Lettern „Ernst Thälmann“ auf dem breiten Sockel zu erkennen, an den Seiten steht das Wort „Rotfront“. Früher, als dieser Teil der Stadt noch unter einem anderen System lebte, sollte das Standbild zusammen mit 1.332 neuen Wohnungen der Welt ein stolzes Modell sein. In rund zwei Jahren hatten die Montagebrigaden des VEB Wohnungsbaukombinats Berlin die Plattenbauten hochgezogen. Und als Staatschef Erich Honecker zum 100. Geburtstag von Ernst Thälmann am 15. April 1986 feierlich das rote Tuch von der 13 Meter hohen Bronze-Plastik zog, als das kleine Mädchen mit der weißen Bluse und dem blauen Halstuch das Lied „Kleine weiße Friedenstaube“ sang, als die einfachen Leute die Übertragung des Festakts abends im Fernsehen sahen – da sollte das alles ein Signal sein.

Dafür, wie gut die Regierung für das Volk sorgt und wie sehr sie seiner Helden gedenkt: Ernst Thälmann, Arbeiterführer und Antifaschist. Ein Kopf mit kampfentschlossenem Blick, die Faust zum internationalistischen Gruss erhoben, im Hintergrund eine Fahne mit Hammer und Sichel. Den Stein für den Sockel hatten die sowjetischen Freunde der DDR geschenkt: „als Achtung des Andenkens an den hervorragenden proletarischen Revolutionär, den Führer der deutschen Kommunisten, Ernst Thälmann“. Der rote Granit stammte aus einem Steinbruch nahe Kiew.

Die Menschen, die abends von der Trambahnstation nach Hause in ihre Wohnungen hasten, wirken neben dem gigantischen Thälmann kleiner als in Wirklichkeit. Viele blicken kurz nach oben. Es scheint wie ein Auftrag, der sie von Bewohnern anderer Hochhausanlagen unterscheidet. Die Figur gibt der Siedlung mehr als nur ihren Namen. Sie verpflichtet die Menschen in den schmutzig-braunen Plattenbauten zur Erinnerung, auch wenn seit mehr als zehn Jahren ein neues System regiert und die Bronze längst Sprüche zieren wie „Theresa wir lieben dich“. „Richtig, dass der Thälmann bleibt, in einer verdreckten Zeit, in der sonst alles zerstört wird“, raunzt eine ältere Frau, die mit ihrem Hündchen auf dem Platz steht. „Jeder hat Mal seine Bedeutung im Leben gehabt“.

Das Gedenken war nicht immer gewollt. Nach der Wende hat es viele Diskussionen um die Zukunft des Denkmals gegeben. 1993 wollten Bezirkspolitiker das Standbild loswerden. Ein bayrischer Millionär aus Gundelfingen, der es für seinen Skulpturenpark haben mochte, verstarb indes unverhofft. Auch das Deutsche Historische Museum winkte ab. Mehreren Millionen Mark hätte der Abtransport gekostet. So blieb der Thälmann aus Geldmangel stehen.

Eine Weile versuchte man davor einen Wochenmarkt zu etablieren: Vietnamesische Händler und Äpfel aus Brandenburg. Die Kunden blieben aus. Seither bestreitet das Standbild den Platz wieder allein. Ganz unglücklich ist der Bezirk über das Monument allerdings nicht. Das Gelände der Anlage ist schwer belastet. Hundert Jahre stand dort ein Gaswerk. Die Sanierung des Untergrunds würde Unsummen verschlingen. Und irgendwie gehöre das Ensemble mittlerweile in die städtische Landschaft, meint Wolfgang Krause, Leiter des zuständigen Amts für Umwelt und Naturschutz. „Ohne Thälmann wäre da ein Loch.“

Für manche wäre es eine schmerzliche Leerstelle. Regelmäßig zu Thälmanns Geburts- und Todestagen findet sich ein Grüppchen älterer Leute nachmittags andächtig am Standbild ein. Ihre Blumen bleiben liegen bis nachts die Jugendlichen kommen und sie durcheinander werfen. Längst hat sich die Sache mit den jungen Leuten und ihren Sprühdosen am Thälmann-Denkmal zu einer Art Kleinkrieg ausgeweitet. Die Grafittis bedeuten vielen hier weit schlimmeres als nur den Ausdruck einer jugendlichen Subkultur. Sie sind eine Schändung. „Ich hasse das, wie sie die Reste entehren“, faucht die Frau mit dem Hündchen böse. Sie sieht aus, als wollte sie gleich um sich schlagen.

Der Widerstand gegen die Grafitti-Sprüher formiert sich. Im Mai 2000 hat sich das „Aktionsbündnis Thälmann-Denkmal“ gegründet. Sein Ziel: „Thälmann soll wieder glänzen“, erklärt Mitglied Hans-Günter Szaliewicz aus Lichtenberg. Ein anstrengendes Vorhaben. Eineinhalb Jahre lang hat der 69-jährige, ehemalige Mitarbeiter der Staatlichen Plankommission der DDR gemeinsam mit seinen knapp 20 Mitstreitern Geld für die Säuberung des Denkmals gesammelt. 6.500 Mark kratzte das Aktionsbündnis zusammen, der Bezirk schoss noch einmal die gleiche Summe dazu.

Was dann kam, nennt Szaliewicz „eine riesige Schinderei“. Eine volle Septemberwoche haben die freiwilligen Helfer unter Anleitung einer Fachfirma das Denkmal geputzt – täglich acht Stunden mit Drahtbürsten, Aceton und Hebebühne. Die vielen Farbschichten lösten sich nur mit Mühe. Irgendwann war es doch geschafft: Die Bronze strahlte sauber.

Natürlich sei man dann frustriert gewesen, als der Thälmann bereits zwei Tage später wieder voll gesprüht war, gibt Szaliewicz zu. „Aber wir wissen ja, in welcher Gesellschaft wir leben.“ Szaliewicz ist einer, der jüngere Mitglieder des Aktionsbündnisses als „jugendliche Kämpfer“ bezeichnet. Ein jugendlicher Kämpfer also hat sich gleich wieder mit der Drahtbürste ans Werk gemacht. Seither geht das so hin und her. Szaliewicz weiß, dass die Grafittis immer wiederkommen. Das Aktionsbündnis will jedoch nicht aufgeben. „Thälmann ist immerhin eine der wichtigsten Personen der deutschen Arbeiterbewegung“, knattert Szaliewicz ins Telefon.

Ob „Teddy“, wie Ernst Thälmann zu DDR-Zeiten liebevoll genannt wurde, tatsächlich auch der „ungebrochene Kämpfer gegen die faschistische Gewaltherrschaft“ war, zu dem ihn die Geschichtslexika der DDR stilisierten, ist unter Historikern mittlerweile aber umstritten. Thälmanns Ermordung im KZ Buchenau 1944 war entscheidend für die Ikonographie der DDR. Manche Geschichtswissenschaftler lesen heute indes aus Thälmanns frühen Reden und Schriften vor allem den glühenden Hass auf die Sozialdemokratie der Weimarer Republik heraus. Ob Thälmann die Gefahr des Faschismus wirklich beizeiten erkannt und so entschieden bekämpft hat, wie es der Mythos später behauptete, kann jedenfalls nicht als gesichert gelten.

Und dabei ist die Legende schon länger brüchig. In den 80er Jahren liefen Westberliner Autonome noch begeistert in die Off-Kinos, um die Propaganda-Filme „Ernst Thälmann – Sohn seiner Klasse“ und „Ernst Thälmann – Führer seiner Klasse“ zu feiern: „Die Nazis waren da so hübsch grün im Gesicht, und die Fahnen leuchteten so schön rot“, erinnert sich eine Filmvorführerin von damals. Währenddessen kam vielen jungen Ostberlinern, wie dem heute 29-jährigen Heiko H., das Thälmann-Denkmal zu jener Zeit „völlig rückwärtsgewandt“ und „martialisch“ vor. „Wer zu irgendwelchen Festtagen dort nicht erschienen ist, hat später in der Schule Ärger gekriegt“, meint er. Er selbst hatte die harten Gesichtszüge des bronzenen Thälmann aus der Ferne zuerst für die von Lenin gehalten. Tatsächlich ist sein Schöpfer, der sowjetische Bildhauer Lew Kerbel, in seiner Heimat vor allem für seine vielen Lenin-Skulpturen bekannt.