Angst vor einem Gemetzel in Kabul

Experten erwarten Angriffe auf die Taliban-Truppen. Ziehen sich die Kämpfer in die Städte zurück, droht ein Desaster

BERLIN taz ■ Der Krieg scheint den US-Medien schon langweilig zu werden. Seit Tagen berichten die großen US-Zeitungen, der Einsatz von Spezialeinheiten in Afghanistan stehe unmittelbar bevor. Neues gibt es selten zu vermelden, eindeutige Erfolge schon gar nicht. Gestern berichtete die Washington Post, die US-Angriffe seien wieder verstärkt werden. Es klingt fast wie eine Beschwörung, denn in Wahrheit klagen Militärplaner im Pentagon über das „zielarme Umfeld“ in diesem Krieg.

„Was bombardiert werden kann, ist schon bombardiert worden“, meint auch Stephen Miller, Rüstungsexperte an der Harvard-Universität. Doch allein aus „Demonstrationszwecken“ werde weiter bombardiert. Gelegentliche Unterbrechungen der Luftangriffe sind nach Auffassung von Militärexperten in Washington deshalb nicht nur denkbar, sondern wahrscheinlich. Bei Bedarf können sie auch humanitär begründet werden.

Wie stark tatsächlich bombardiert wurde, war auch bisher schwer zu überprüfen. Das Pentagon nennt nicht einmal die präzise Anzahl der eingesetzten Flugzeuge. Zudem kommt es häufig vor, dass Piloten ihre Waffen wieder zu den Basen oder Flugzeugträgern zurückbringen, weil geplante Ziele nicht auffindbar sind.

Geheimdienstfachmann John Pike von Globalsecurity.org, einem privaten Forschungsinstitut in Washington, verweist darauf, dass das Tempo der Angriffe schon bislang sehr langsam gewesen sei, verglichen mit den Bombardements in Irak und Jugoslawien. Denn: „Im Gegensatz zum Kosovo gibt es keinen Druck, die Sache schnell zu beenden.“ Außerdem gebe es diesmal die Vorgabe, keine Brücken und keine Elektrizitätsanlagen zu zerstören. Die Infrastruktur könnte noch für die eigenen Truppen oder für die Nordallianz nützlich sein.

„Als Nächstes werden die Taliban-Truppen selbst auf unserer Liste stehen“, sagt deshalb Stephan Baker, der dreißig Jahre lang selbst Einsätze von US-Flugzeugträgern aus geflogen hat und heute für das regierungsunabhängige „Center for Defense Information“ in Washington arbeitet. „Dazu werden Streubomben und ungesteuerte Bomben eingesetzt“, ist sich Baker sicher, „keine lasergesteuerten Waffen.“ Von diesen Zielen wird es allerdings sehr viele geben. Denn die Taliban-Kämpfer sind in sehr kleine Einheiten aufgeteilt.

Wenigstens eine kleine Neuigkeit konnte die US-Presse gestern ihren Lesern bieten – den angeblich ersten Einsatz von sehr tief und relativ langsam fliegenden Propellerflugzeugen des Typs AC-130, vorgesehen zum direkten Beschuss von Zielen am Boden. Der Einsatz dieser so genannten Gunships wird voraussichtlich verstärkt, wenn die ersten kleinen Einheiten ins Land kommen.

Die Spezialeinheiten stehen auf dem US-Flugzeugträger „Kitty Hawk“ bereit. Sie sollen von Hubschraubern der Typen UH-60 und MH-53 nach Afghanistan gebracht werden, die über besonders leise Motoren und eletronische Abwehrmaßnamen gegen Beschuss vom Boden verfügen. Die Gefahr, von den noch nicht zerstörten Abfangwaffen getroffen zu werden, wird dennoch bleiben.

Den bald beginnenden Winter in Afghanistan sehen Militärexperten dagegen nicht als Hindernis. Dann wären die mit Hubschraubern agierenden Truppen gegenüber den Taliban-Kämpfern sogar noch deutlicher im Vorteil. Auch Infrarot-Suchgeräte schlagen bei kalter Witterung besser an.

Auch William Arkin, einst Geheimdienstoffizier bei der US Air Force, sieht den Kälteeinbruch nicht als Hindernis für die US-Spezialkräfte. Arkin rechnet fest damit, dass die Luftangriffe und der Krieg am Boden bis zum Frühjahr andauern werden. „Wenn die Sache vor dem Ende des Winters beendet sein würde, wäre ich überrascht.“

Wie das Ende des Krieges aussehen könnte, wagen auch die an keine Geheimhaltungspflicht gebundenen Militärexperten nicht vorherzusagen. „Wenn die Taliban sich in die Städte zurückziehen, stehen wir vor einer ganz neuen Aufgabe.“ Dort hätten sie zwar weniger Bewegungsfreiheit, wären aber auch vor US-Luftangriffen besser geschützt. „Wenn Taliban-Truppen sich in die Städte zurückziehen, ist das Risiko, sie zu bombardieren, zu hoch“, sagt Harvard-Wissenschaftler Miller mit Blick auf die internationalen Reaktionen.

Sollte die Bush-Regierung in einem solchen Fall tatsächlich entscheiden, statt US-Bomben lieber die Nordallianz gegen die Taliban in die Städte zu schicken, könnte dies zu einer Katastrophe werden. Falls sich die Taliban tatsächlich in die Hauptstadt zurückziehen, so Arkin, „könnten wir ein wahrhaftes Gemetzel in Kabul bekommen.“

ERIC CHAUVISTRÉ