. . . existiert Deutschland nicht mehr

aus Berlin MATTHIAS URBACH

Atomindustrie – das bedeutet permanente Bedrohung. Sie „erlaubt“ scharfe Gesetze zum „Schutz der Bürger“.

Dies schrieb 1977 der prominente Atomgegner Robert Jungk in seinem Buch „Der Atomstaat“. „Der Doppelantrieb von Terror- und Atomfurcht“, heißt es darin prophetisch, „wird die Industriestaaten dazu veranlassen, alle ‚Erkenntnisse‘, die über ihre Bürger in den verschiedensten staatlichen und privaten Datenbanken gehortet sind, bei Bedarf zu einem einzigen Warn- und Kontrollsystem von nie gekannter Dichte zusammenzuschalten.“

Rund 24 Jahre später erfahren Jungks Worte eine späte Bestätigung. Während Studien zur Sicherheit kerntechnischer Anlange jahrzehntelang hinter verschlossenen Türen behandelt wurden, musste nun gestern die Reaktorsicherheitskommission (RSK) auch offiziell zugeben, was Kritikern und Kennern immer schon klar war. Gegen Terrroranschläge gibt es keinen hundertprozentigen Schutz der Atomanlagen. Und ausgerechnet die Regierung, die den Atomausstieg beschlossen hat, muss sich nun Gedanken über einen wirksamen Schutz der Meiler vor Terror machen. Vorschläge gibt es genug: Sie reichen von Flugabwehrgeschützen, über unterirdische Verlegung der Strom- und Kühlleitungen, einen dickeren Stahlbetonmantel – so genannte Containments – um den Reaktorkern, bis hin zu einer besseren Überwachung des Kraftwerkpersonals. Gleichzeitig tobt eine Debatte über Maßnahmen für die Sicherheit im Inneren. Sie reichen von der Abschaffung des Religionsprivilegs im Vereinsrecht bis hin zu der Forderung nach einem Fingerabdruck im Personalausweis. Das klingt nach einem Riesenschritt in Richtung von Jungks Horrorvision aus den Zeiten des deutschen Herbstes – nur anders, als es der Autor sich vorgestellt hat. Denn für den Ruf nach größerer Sicherheit ist gar keine Atomkraft nötig. Die Angst vor der terroristischen Bedrohung allein reicht.

Das bringt nun die Grünen auf den Plan. Das Thema Atomsicherheit, klagten gestern die Abgeordneten Michaele Hustedt und Cem Özdemir in einer eigens einberufenen Pressekonferenz, werde offenbar von den anderen Parteien nicht ernst genug genommen. So hätten nur Grüne in der Bundestagsdebatte zur inneren Sicherheit die Gefahren für AKWs angesprochen. „Wer aber über innere Sicherheit spricht“, erklärt der Innenpolitische Sprecher der Grünen, Özdemir, „der muss auch über Atomkraft sprechen.“ Ein klarer Wink auch an Innenminister Otto Schily, der das Problem bislang klein fährt.

Keine Kritik an Trittin

Umweltminister Jürgen Trittin wird von der Kritik ausdrücklich ausgenommen, schließlich habe er umgehend reagiert, strengere Sicherheitsmaßnahmen angemahnt und eine Sicherheitsanalyse in Auftrag gegeben. Offenbar blieb Trittins Tun nicht ohne Wirkung, denn die Betreiber der Atomkraftwerke reagierten zumindest insofern, als sie für ihre Meiler „Sicherheitsstufe 2“ erklärten und seitdem den Zugang zu sicherheitsrelevanten Bereichen schärfer überwachen. Ansonsten allerdings stellen sich die Unternehmer bislang stur.

Kein Wunder, denn auf sie könnte einiges zukommen. Unter den Meilern gibt es ein erhebliches Sicherheitsgefälle. Während die ältesten Reaktoren keinen Schutz vor Flugzeugabstürzen haben, sind die jüngeren Baujahre gegen den Absturz leichter Militärjets vom Typ Starfighter oder Phantom gerüstet. Doch die sind erheblich leichter als ein Passagierflugzeug, das zudem im Fall des 300 Tonnen schweren Jumbojets mit mehr als 100 Tonnen Kerosin betankt ist – zwanzigmal mehr Treibstoff als das Kampfflugzeug mit sich führt. Für dieses Szenario gebe es noch keine Studien, erklärte die Reaktorsicherheitskommission (RSK) gestern in wissenschaftlicher Zurückhaltung. Deshalb seien „verlässliche Aussagen nicht möglich“, so die Kommission weiter. „Abhängig vom Schutzgrad der jeweiligen Anlage sind im Einzelfall auch massive Freisetzungen radioaktiver Stoffe nicht auszuschließen.“

In internen Gesprächen reden die RSK-Mitglieder nicht so vorsichtig. Sie verweisen auf Schweizer Studien über den dortigen Meiler in Gösgen – die deuten darauf hin, dass gegen den Einschlag eines Jumbos kein Kraut gewachsen ist. Auch dickere Wandstärken, so die Befürchtung, dürften kaum helfen. Denn um ein Atomkraftwerk außer Kontrolle zu bringen, muss die Außenhülle des Reaktorgebäudes gar nicht durchschlagen werden. Allein die Wucht des Aufpralls schüttele den Reaktor „wie einen Würfel im Würfelbecher“. Dabei würden vermutlich Rohrleitungen, Armaturen und Stromkabel reißen – weshalb eine Kernschmelze nicht mehr zu verhindern sein.

Es dürfte vermutlich auch wenig nützen, dass 17 der 19 Atommeiler über eine verbunkerte Notstandsschaltzentrale verfügen, um den Reaktor herunterfahren zu können. Denn die Brennstäbe müssen auch nach dem Abschalten noch einige Wochen gekühlt werden. Zur Kühlung braucht man Notstromaggregate, die dieselgetrieben sind und sich außerhalb des Containments befinden. Unwahrscheinlich, dass deren Dieseltanks bei einem Großbrand des ausgelaufenen Kerosins nicht explodieren sollten.

Es ist also kein Zufall, dass die RSK sich in ihrem gestrigen Bericht in einer Sache bereits sicher zeigt: Die wirksamste Gegenmaßnahme sei ein „gestaffeltes Schutzkonzept“ zur Flugsicherheit, das die Gefahr einer Entführung erst gar nicht entstehen lasse. Ein sicherheitstechnischer Offenbarungseid.

Viele Terrorszenarien

Nun ist das Szenario von New York nicht das einzige. Auch die Eroberung des Kontrollzentrums eines Reaktors durch Terroristen oder der Angriff mit panzerbrechenden Waffen kommt in Betracht. Die bisherigen Szenarien gehen alle davon aus, dass die Angreifer ihr eigenes Leben retten wollen. Ein Trugschluss, weshalb Umweltminister Trittin nun auch für diese Szenarien neue Studien in Auftrag gegeben hat.

Die Grünen dagegen wissen, was auf dem Spiel steht. Im kleinen Kreis werden sie deutlich: „Wenn drei Meiler in den richtigen Regionen durch einen vergleichbaren Anschlag wie in den USA getroffen werden, existiert die Bundesrepublik nicht mehr.“ Und doch ist es eine ungewohnte Situation für die Grünen, sich nun Gedanken machen zu müssen, ob man etwa an den Atommeilern Flugabwehreinheiten der Bundeswehr stationiert.

Einerseits fällt Trittin die Antwort auf diese Frage leicht: Luftabwehr mache wenig Sinn, weil sie nur zwei Minuten Zeit hätte, um zu entscheiden, „ob sich der LTU-Jet mit 200 Mallorca-Urlaubern nur verfolgen hat oder sich auf den Meiler stürzen will“. Andererseits aber ist es für den Minister viel schwerer, sinnvolle Maßnahmen zu finden und gegen die Energieversorger durchzusetzen. Den Ausstieg aus der Atomkraft wollen einige Grüne an der Basis nun beschleunigen. In einem Antrag für den kommenden Parteitag vom Berliner Abgeordnetenhausmitglied Hartwig Berger wird die „sofortige Stilllegung“ der zehn ältesten Meiler gefordert, „weil sie über völlig unzureichende Schutzvorrichtungen gegen Flugzeugabstürze“ verfügten. Damit wollen sie auch gerade „eine schleichende Entwicklung zum autoritären Staat“ verhindern, vor der der „unvergessene Robert Jungk“ gewarnt habe. Dies wird die Parteiführung sicher nicht begrüßen. „Wer solche Tipps gibt, sollte erst mal nachdenken“, schimpft die energiepolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion Hustedt. „Das berge die Gefahr, am Ende mit völlig leeren Händen dazustehen.“ Auch Trittin möchte jetzt erst mal den bestehenden Atomkonsens per Gesetzesnovelle rechtskräftig machen. Mitte Dezember muss der Bundestag darüber abstimmen. Hinterher könne man immer noch entscheiden, ob die neue Sicherheitslage weitere Maßnahmen notwendig mache.