Kollektive Erinnerungsreise

■ Die eigenen verschütteten Träume inszeniert: Ea Solas vietnamesisches Requiem gastiert auf Kampnagel

Die vietnamesische Choreografin Ea Sola sucht die Synthese aus Tradition und Moderne. Das Ergebnis ihrer weitreichenden Recherchen zeigt sich in Arbeiten, in denen die Essenz einer uralten Kultur in zeitgenössische Formen gekleidet wurde. Die Kunst der Emigrantin, die ihre Kindheit auf der Flucht und anschließend viele Jahre in Paris verbrachte und die jetzt auf Kampnagel gastiert, zählt zu einer Avantgarde, die ihre Wurzeln wieder entdeckt hat.

1995 ließ Ea Sola in Secheresse et Pluie (Dürre und Regen) mit Bäuerinnen aus den Dörfern im Norden Vietnams, Frauen zwischen 50 und 76 Jahren, auf den Bühnen des zeitgenössischen Tanztheaters eine durch den Krieg beinahe ausgelöschte Kultur wieder aufleben. In Il a été une fois (Es war einmal) 1997 waren es junge Mädchen und Männer, die, angelehnt an einen vietnamesischen Schöp-fungsmythos, von der Ungewissheit zwischen Abschied und Neubeginn erzählten. 1999 dann, in dem Chorspiel Voilà Voilà, schienen die Darsteller endlich mitten im Hier und Heute des Lebens angekommen zu sein.

Requiem, das im letzten Jahr bei der Expo in Hannover seine Uraufführung erlebte und jetzt auf Kampnagel gastiert, blickt erneut zurück, begibt sich auf eine kollektive und schmerzvolle Erinne-rungsreise, erzählt aus subjektiver Sicht. Für das Hamburger Publikum bedeutet dies ein Wiedersehen mit einer alten Bekannten. Denn eine der Entdeckerinnen und wichtigsten Fördererinnen des Tanztheaters von Ea Sola ist von Anfang an die vor zwei Jahren nach Berlin abgewanderte Hammoniale – Festival der Frauen gewesen. Die ersten drei Stücke ihres Vietnamzyklus präsentierte Ea Sola im Rahmen des Festivals auf Kampnagel.

Mit Requiem hat die heute in Hanoi lebende Choreografin ihre Vietnamrecherche nach zehn Jahren für abgeschlossen erklärt. Und zum ersten Mal tritt Ea Sola hier selbst als Tänzerin auf. Insgesamt sind es 22 Musiker und Tänzer, Männer und Frauen unterschiedlichen Alters, die sich in einem kraftvoll dynamischen Bewegungsgestus auf eine rituelle Reise in die ältere und jüngere Vergangenheit begeben, die diesmal auch eine religiöse Spurensuche in der vom Buddhismus durchzogenen Kultur Vietnams ist. Ea Sola kommt dabei die Rolle eines mahnenden Gewissens zu. Gleich einer Schlafenden, die aus den eigenen, verschütteten, unruhigen Träumen erwacht, tritt sie immer wieder auf.

Eine stille, aber beharrliche Rebellion gegen das Vergessen war stets der Motor ihrer Kunst, seit die Tochter einer Französin und eines Vietcong, geboren und aufgewachsen in den Bergwäldern nördlich von Saigon, sich nach traumatischer Flucht ins Pariser Exil der Wiederentdeckung der eigenen Kultur zuwandte. Doch ist Requiem weit davon entfernt, einzig das persönliche Schicksal der heute 39-jährigen Choreografin zu inszenieren. Klug bricht sie die Perspektive, indem sie einen alten Mann als Beobachter an die Bühnenrampe setzt. Marga Wolff

18.+19. Oktober, 20 Uhr, Kampnagel (k2)