Nothing but desert

■ Tim Ingolds große Amerika-Serie, achter Teil

Hinter den Fenstern der Boeing 707 der Air Force war nichts als pechschwarze Nacht. Tamara Nichols schaute angestrengt, ob sie nicht doch irgendwo ein Positionslicht oder das Glitzern des Meeres ausmachen konnte, aber die ganze Welt schien in dieser Nacht in eine dicke Wolkendecke gehüllt zu sein. In ihrem Beruf nannte Tamara Nichols sich Tamara Treasure, wobei dieser Nachname sowohl an „Schatz“ oder „Liebling“ als auch an „Perle“ erinnerte, etwas, das man gemeinhin zu Dienstmädchen sagte. Es war eine Idee ihres Managers Jeff Clancy gewesen, der jetzt neben ihr in seinem Sitz lag und im Schlaf rasselnd ein- und ausatmete. Begleitet wurden die beiden von einem Kamerateam der Army – junge Kerle in sandfarbenen Kampfanzügen, die ihr ab und zu über die Lehnen ihrer Sitze schüchterne Blicke zuwarfen. Tamara Treasure verdiente ihr Geld mit ihrem Körper. Sie strippte, machte Nacktaufnahmen und hatte es durch durch die Produktion einer ganzen Reihe von Hardcore-Filmen in den USA zu bescheidener Berühmtheit gebracht, besonders innerhalb der Streitkräfte, wo ihre Poster so manchen Soldatenspind schmückten.

Vor zwei Jahren hatte sie sich, ebenfalls auf Anraten von Jeff, die Brüste vergrößern lassen, und seitdem war ihre Karriere erst richtig ins Rollen gekommen. Ihre Brüste waren jetzt rund und prall wie Handbälle und standen grotesk von ihrem schmalen Oberkörper ab. Außer zwei dünnen fingerlangen, rosafarbenen Narben am unteren Brustansatz, die nur zu sehen waren, wenn sie die Brüste anhob und die zudem bei Fotoaufnahmen und Filmdrehs überschminkt wurden, war von dem Eingriff nichts mehr zu sehen. Ab und zu spürte sie aber, auch zwei Jahre nach der Operation, noch ein unangenehmes Ziehen in dem Narbengewebe, besonders morgens, nach dem Aufwachen.

Die Maschine befand sich auf dem Weg nach Daran in Saudi-Arabien, wo Tamara das Highlight einer Weihnachtsfeier für die Soldaten sein sollte. Jeff hatte mit den Veranstaltern vereinbart, daß sie sich zu diesem Zweck aus einem Santa Claus-Outfit schälen solle und daß die Show, da es sich ja um eine Weihnachtsfeier handele, nicht allzu obszön sein solle; den Slip solle sie anbehalten. Tamara gab es auf, durch ihr Fenster zu spähen. Sie gähnte, stellte die Lehne ihres Sitzes zurück, schmiegte ihre Wange an den Schonbezug über der Kopfstütze und schlief sofort ein. Sie wurde erst wach, als die Maschine auf dem Rollfeld von Daran aufsetzte. Mit einem Bus wurden Tamara, Jeff und das Kamerateam in die Hafenstadt Al Jubail gebracht, in der die Army und die Navy im Dezember des Jahres 1990 ihre ersten großen Sammellager für Soldaten und Material errichtet hatten, das bald in Kuwait und im Süden Iraks zum Einsatz kommen sollte. „Was für ein Scheißland“, sagte Jeff, der durch die schmutzigen Fenster des Busses in den Sonnenaufgang blinzelte, „nichts als Wüste“.

Lieutenant Mike Hamwell vom 2nd Armored Cavalry Regiment der US Army saß in dem Trubel der Weihnachtsfeier etwas abseits auf einer Bank und nippte still an seiner Dose Budweiser. In Gedanken war er bei seiner Frau Katie und seiner sechsjährigen Tochter Jacqueline, die wohl gerade ihr erstes Weihnachten ohne ihn in Bamberg, Germany, feierten, der Heimatbasis des 2nd ACR. Auf der Bühne, die eine Pioniereinheit der Marines zusammengezimmert hatte, tanzte eine Frau mit unnatürlich großen Brüsten herum, nur mit einem Slip und einer Santa Claus-Mütze bekleidet. Vor der Bühne, zwischen den anderen 2500 Soldaten, tobten und grölten wahrscheinlich auch seine Jungs herum und übergossen sich gegenseitig mit Bier. Hamwell schmunzelte, wurde aber wieder ernst, als er für einen Moment das Gesicht der Frau auf der Bühne sah und ihr gespieltes, übertriebenes Lächeln. Bestimmt wäre sie jetzt auch lieber bei ihrer Familie, dachte er.

Am 26. Februar 1991, zwei Tage nach dem Beginn der Bodenoffensive, marschierte das 2nd ACR als Vorhut des VII. Corps im Rahmen der Operation „Hail Mary“, die den Irakern den Fluchtweg nach Norden abschneiden sollte, in Richtung Osten durch die irakische Wüste. Um 16 Uhr 22 traf das 2nd ACR auf energischen Widerstand der Tawakalna-Panzerdivision der irakischen Republikanischen Garde. Nach nur 23 Minuten Feuergefecht hatte das 2nd ACR die irakische Division ohne eigene Verluste vollständig aufgerieben; die überlebenden Iraker ergaben sich kurz darauf. Lieutenant Mike Hamwell öffnete die Luke seines M1-Kommandopanzers, um sich einen besseren Überblick über das Schlachtfeld zu verschaffen, in dem überall brennende irakische T-72 Panzer und Truppentransporter herumstanden. In diesem Moment schlug neben dem M1 eine Artilleriegranate ein. Ein Schrapnell durchschlug Hamwells Hals, ein anderes bohrte sich in seinen Brustkorb. Als er starb, erinnerte er sich seltsamerweise nicht an seine Frau oder seine Tochter, sondern an das Gesicht der Stripperin, die er im Dezember in Al Jubail gesehen hatte. In ihrem Gesicht hatte die gleiche Frage gestanden, die jetzt in Hamwells Gesicht stand: Was mache ich eigentlich hier?