in fußballland
: CHRISTOPH BIERMANN über den Stürmer Ulf Kirsten

Hochtourige Vorwurfsmaschine

Es gibt sogar Journalisten, mit denen Ulf Kirsten sich unterhält. Viele sind es nicht, und ich gehöre keinesfalls dazu. Wie die meisten mache ich einen ängstlichen Bogen um den erfolgreichsten Torjäger der Bundesliga. Der Mann mag unglaubliche 176 Tore in 324 Spielen für Bayer Leverkusen geschossen haben, aber kein anderer Fußballspieler macht ein so überzeugendes Wenn-du-nicht-aufpasst-hau-ich-dir-in-die-Fresse-Gesicht wie Kirsten. Der Schwatte weiß, wie man per Körpersprache Nein sagt, und das mit Ausrufezeichen.

Trotzdem sei Ulf Kirsten hier bejubelt und gepriesen, denn er gehört zu jenen Kickern, deren Beurteilung zum Ende ihrer Karriere eine dramatische Wendung erlebt. Ein Beispiel dafür ist auch Jürgen Kohler, den ich früher für eine düstere Ausgeburt der Waldhöfer Abwehrschule gehalten habe, die solch gefährliche Eisenfüße wie Schlindwein, Dickgießer, die Förster-Brüder oder Wörns hervorgebracht hat. Heute hingegen fällt Kohler mit erwachsener Entspanntheit und Brille fast ins Harrison-Ford-Fach.

Ulf Kirstens Spielweise fand ich in ihrer bis ans Selbstzerstörerische reichenden Besessenheit lange Zeit regelrecht widerwärtig. Sogar in jenem Fall, als er sich vor Jahren bei einem gnadenlosen Zusammenprall mit dem Dortmunder Torhüter Klos so schwer verletzte, dass ihm selbst beinahe der Unterschenkel hätte amputiert werden müssen. Bis heute ist er deshalb ein Spieler, den gegnerische Fans love to hate. Für mich gehört es jedoch inzwischen zu den stillen Vergnügen der Bundesliga, Kirsten zu beobachten. Noch immer ist seine Welt von einer Übersichtlichkeit, deren Regeln man von Bürowänden kennt.

Regel eins: Ulf Kirsten hat immer Recht. Regel zwei: Wenn der Stürmer Ulf Kirsten einmal nicht Recht hat, tritt automatisch Regel eins in Kraft.

Wer von seinen Kollegen Ulf Kirsten anspielt, tut recht. Außer der Pass ist nicht genau gespielt. Dann tut er schlecht und muss eine Schimpfkanonade über sich ergehen lassen. Die gibt es auch, wenn Kirsten überhaupt nicht angespielt wird, außer sein Mitspieler erzielt ein Tor. Aber das ist die einzige gültige Entschuldigung. Achtung, Schiris: Kirsten ist immer gefoult worden, wenn er kein Tor geschossen hat. Er steht nie im Abseits, selbst wenn er im Abseits steht. Ist er nur ein wenig im Abseits, regt er sich ungeheuer über die Entscheidung der Schiedsrichter auf. Steht er meterweit im Abseits, tobt er trotzdem. Steht er unendlich weit im Abseits, kriegen es seine Mitspieler ab, die ihn nicht rechtzeitig angespielt haben.

Wer diese permanent hochtourige Vorwurfsmaschine zum ersten Mal in Aktion sieht, könnte Kirsten für einen neurotischen Irren halten. Mit der Zeit lernt man jedoch die solchen Motzereien innewohnende Komik zu schätzen, während seine Mitspieler sie wohl einfach ins eine Ohr hinein- und zum anderen Ohr hinauswehen lassen. Beim Leverkusener Publikum machen Kirsten seine manischen Anstrengungen zum populärsten Spieler. Mir scheint fast, als wäre er noch beliebter geworden, seit er sich für weniger Ertrag immer mehr mühen muss.

Kirsten ist bald 36, hinter jedem Tor stecken mehr Anstrengungen und Askese. Es gibt wenig Profis, die so viel Zeit darauf verwenden, sich vor und nach jedem Training ausgiebig behandeln zu lassen, die so viel Wert auf Ernährung legen und ihrem Körper alle notwendigen Ruhepausen geben. Kirsten mag zwar wie ein Haudrauf wirken – wozu auch seine langjährige Freundschaft mit den Fußballrockern alten Schlages vom Fan-Club Schwarze Wölfe bestens passt –, aber in Wirklichkeit ist er ein Musterprofi.

Dadurch kann er dem natürlichen Alterungsprozess zwar nicht entfliehen, aber langsam hat er etwas hinzugewonnen, das man fast Selbstdistanz zu nennen versucht ist. Seine Tacklings sind nicht mehr so erbarmungslos, seine Statements milder und sein kühles Verhalten bei der Diskussion über eine Rückkehr ins Nationalteam war schon fast altersweise.

Ich glaube, demnächst werde ich ihn mal ansprechen. Aber nur, wenn er vorher drei Tore geschossen hat.

Fotohinweis:Christoph Biermann, 40, liebt Fußball und schreibt darüber