„Ich schreibe, also lebe ich“

Wie will Rainer Merkel leben? In einer Verschmelzung von Leben und Arbeiten. Der Schriftsteller aus Berlin („Das Jahr der Wunder“) strebt nach absoluter Intensität und bewegt sich dabei zwischen totalem Glücksgefühl und grausamem Absturz

Interview THILO KNOTT

Herr Merkel, wann haben Sie entdeckt, dass Schreiben Ihre Berufung ist?

Rainer Merkel: Ich habe gemerkt, dass das Schreiben mich in Bewegung setzt und dadurch sehr viele Energien frei werden. Ich habe darin die Möglichkeit gesehen, einen Totalisierungsprozess in Gang zu setzen. Das Tolle am Schreiben ist, dass ich alle Erfahrungen und Eindrücke zusammenziehen kann. Das Leben insgesamt wird verdichtet. Die Beschäftigung mit vielen Dingen, ob ich jetzt ins Kino gehe oder ein Sachbuch lese, interessiert mich als Schriftsteller. Die Intensität weitet sich auf größere Bereiche des Lebens aus – sicherlich eine narzisstische Maschinerie. Das entspricht der Utopie eines Verschmelzens von Leben und Arbeiten.

Nicht jeder wird als Schriftsteller geboren. Und nicht jeder kann diese „Utopie“ leben. Empfinden Sie das als Luxus?

Es ist ein Luxus, diesem Anspruch an das eigene Leben zu folgen. Größenwahn ist natürlich ein Luxus, auf einer theoretischen Ebene. In der Praxis ist es aber wieder kein Luxus, sondern harte Arbeit. Ein Buch zu schreiben kostet sehr viel Kraft. Und diese Sehnsucht nach der Intensität des Schreibens führt zu einer sehr großen Belastung. Die Intensität des Lebens ist nicht einfach da oder fliegt einem zu, man muss sie erkämpfen. Es ist ein ambivalenter Prozess: Manchmal gibt es beim Schreiben großartige Zustände mit totalem Glücksgefühl, dann gibt es auch grausame Abstürze, den völligen Zweifel an sich selbst. Nach dem Buch habe ich gemerkt, ich existiere gar nicht mehr so richtig, die Intensität ist weg. Da muss ich mich dann gleich in das nächste Projekt stürzen.

Es existiert in Ihrem Leben keine Sicherheit, kein Fallschirm, der gerade die Abstürze auffängt?

Nicht wirklich. Ich bin zwar noch auf Honorarbasis als Psychologe tätig. Aber grundsätzlich ist dieses Lebenskonzept als Schriftsteller unendlich: Man macht ein Buch und weiß danach nicht, ob man ein zweites hinbekommt.

Könnten Sie sich vorstellen, diese Intensität oder Totalität, wie Sie es nannten, auch mit anderen Tätigkeiten zu erreichen?

In der Agentur, für die ich gearbeitet habe, gab es auch Intensitätsphasen innerhalb der Gruppe, der Zusammenarbeit im Team. Das Pendel aber schlägt nicht so stark aus.

Ist es einem Schriftsteller unmöglich, nicht zu schreiben?

Ich finde es immer übertrieben, zu sagen, ich kann nicht anders als schreiben. Ich ordne das Schreiben einem Suchtverhalten zu: Schreiben ist eine narzisstische Lebens-Maschinerie, die man angeworfen hat. Wenn man sie ausstellt, dann ist da eine große Leere, die Angst macht, aber dann kehrt man zu diesem Suchtmittel, dieser Vermischung von Schreiben und Leben, wieder zurück.

Sind Sie das, was Sie schreiben?

Ich schreibe nicht biografisch, das ist in den Büchern nicht mein Leben. Das Inhaltliche geht natürlich durch mich als Wahrnehmungsapparat hindurch, ich bin eine Art Vermittlungsstelle zwischen der Figur und mir selbst. Das ist ein schauspielerischer Akt, die Hauptfigur zu verengen und ihr eine Haltung zu geben. Die Figuren kann ich nicht konstruieren außerhalb meiner selbst.

Am Anfang jedes Schreibens steht eine Idee. In Ihrem Debütroman „Das Jahr der Wunder“ geht es um die „schöne neue Arbeitswelt“ und den Typ des „flexiblen Menschen“. Was war Ihre Motivation, diesen Stoff aufzugreifen?

Es war klar, dass ich meine Erfahrung bei der Agentur, für die ich tätig war, verarbeiten wollte. Es ist ein klar geordnetes Thema, was wichtig ist beim ersten Buch. Immer wenn ich beim Schreiben in eine Sackgasse geraten bin, hatte ich immer noch eine Analyse dieser Welt, um wieder herauszufinden.

Die Welt der New Economy, wie Sie sie beschreiben, wird vom „berauschenden Zwang“ dominiert, „ständig auf der Hut sein, ständig kommunizieren zu müssen und immerfort alles im Blick zu haben“. Finden Sie selbst Gefallen am Leben in solch einer Welt?

Ich habe das als spannend empfunden, diesen Prozess des permanenten Austauschs. Man ist ständig auf so einem absoluten Level der Aufmerksamkeit, ständig in Bewegung. Man kann sich nicht so vergraben in seinen Ideen. Es ist ein ständiges Abgleichen mit der Realität. Ich hatte zu dieser Welt allerdings immer eine Distanz, war innerlich nicht so involviert.

Ihr Protagonist hatte nicht einmal die Zeit, sich einen Sonnenaufgang anzuschauen. Kann sich eine Gesellschaft halten, die Glück nur über Leistung und Erfolg definiert?

Vor zehn, zwanzig Jahren hat es vielleicht noch zum Lebensentwurf gehört, Sonnenaufgänge zu genießen. Aber das ist vorbei. Jetzt wird der Sonnenaufgang dazu benutzt, um neu aufzutanken und mit noch größerer Kraft, noch größerer geistiger Beweglichkeit an seinen Arbeitsplatz zurückzukehren. In solchen kleinen Manövern des Selbstbetrugs tauchen die Utopien der 70er-Jahre wieder auf. Gerade in der New Economy findet man die Utopien der 68er wieder – allerdings völlig entpolitisiert und in einen ganz anderen Dienst gestellt. Nämlich nicht in einen antikapitalistischen Rückzug, sondern das genaue Gegenteil. Diese Techniken der Selbstvergewisserung werden ausgenutzt, um innerhalb des Systems noch effektiver zu sein. Dabei ist sogar Verweigerung zulässig, allerdings nur als Idee, die gedacht werden darf, die aber nie realisiert wird.

Es gibt also keinen Platz mehr für Utopien?

Es ist notwendig, gerade linke Utopien nicht fallen zu lassen, sondern aufzubewahren. Im Moment ist aber keine Zeit dafür. Das Glück an sich, als Dauerzustand, gibt es sowieso nicht. Es gibt Glücksmomente, kleine Augenblicke. Ich suche nicht nach dem großen Glück, jedenfalls nicht bewusst. Manchmal erkennt man Glücksmomente ja auch erst viel später, nach Monaten oder Jahren.

Inwiefern haben Sie sich persönlich an dieser von Ihnen beschriebenen Welt gerieben?

Mir ist es beim Schreiben wichtig, nicht mit einer bestimmten Haltung dieser Welt zu begegnen. Ich wollte nicht werten, ob die Hauptfigur am Ende zusammenbricht oder ob sie noch erfolgreicher wird – das wollte ich offen lassen. Ich nehme schon eine kritische Haltung gegenüber der kapitalistischen Welt ein, aber das ist nicht die Position, von der aus ich schreibe.

Sie wollen kein moralischer Schriftsteller sein?

So wie ich mich als Schriftsteller definiere, kann es nicht mein Job sein, eine ganz bestimmte Position einzunehmen. Ich will so nah wie möglich an dieser Welt dran sein, gleichzeitig aber die Distanz bewahren, damit der Leser mehrere Perspektiven vorfindet. Der Leser kann dann selbst die Schlussfolgerung ziehen, ob er sich dieser Glücksideologie verschreiben will oder nicht. Der Schriftsteller als politisch Verantwortlicher, das ist, glaube ich, vorbei. Ich sehe mich auch nicht in der Lage, quasi als Außenstehender, als moralisches Gewissen aufzutreten.

Wie wollen Sie leben?

Meine Welt spielt sich schon sehr stark im Schreibprozess ab. Man könnte sagen, das ist ja gar keine richtige Welt, aber ich glaube schon, dass das eine Art des Lebens ist. Das Schreiben ist schon ein Rückzug, man flüchtet vor der Realität, eine Art passiver Modus, aber andererseits ist diese Intensität ja auch Leben. Man lebt, wenn man schreibt. Von daher spielt sich da sehr viel von der Welt ab.