Die große Leere

Die deutsche Universität kennt keine Bilder von sich. Nichts fehltihr dringender als die emotionale Bindung der Studierenden an sie

von ULRIKE WINKELMANN

„Die Texte, die im Seminar gelesen werden sollen, bieten einerseits Gelegenheit, einen wesentlichen Teil der eigenen Lebenswelt mit deren ästhetischer Brechung zu konfrontieren; andererseits bergen sie natürlich die Gefahr, zu identifikatorischen Lektüren Anlass zu geben. Davor werden wir uns hüten müssen.“ Soweit der Ankündigungstext zum Seminar „Gelehrtenroman und Campus Novel“ an einer deutschen Universität. Unwiderstehlich, wie aus einer siebenzeiligen Ankündigung zu einem Germanistikseminar die gesamte Tragik der deutschen Universität herausschaut. Statt es als Chance zu begreifen, dass die Teilnehmer etwas über die Hochschule und ihre merkwürdigen Bewohner, sprich über ihre eigene Situation, lernen könnten, warnt der Dozent noch vor Semesterbeginn erst einmal vor der Gefahr der Identifikation.

Dabei bräuchten die Hochschulen nichts nötiger als das – eine emotionale Bindung der Studierenden an ihre Universität, das Gefühl, den gleichen Tücken des Alltags ausgesetzt zu sein. Abturnende Seminarankündigungen sind da nur das geringste Übel.

Nein, es geht um: Willkür der Fachbereichsverwaltung, die handstreichartig Öffnungszeiten von Sekretariaten und Bibliotheken beschneidet. Ebenso demütigende wie freundliche Arbeitsverweigerung von Professoren, die sich in ihre Zweit- und Dritthäuser in Südeuropa zurückziehen und übrigens nicht nur die schönste Teilnehmerin des Hauptseminars, sondern auch die wichtigsten Bücher der Institutsbibliothek gleich dort mit hin nehmen, statt auch nur eine einzige Feriensprechstunde anzubieten. Die unumwunden zugeben, die Hausarbeit, an der man drei Monate geschrieben hat, nicht zu Ende gelesen zu haben, aber gut aufgebaut, keine Frage, gut aufgebaut. Oder so genannte Kommilitonen, die von einem abrücken, weil man öffentlich den Seminarplan kritisiert hat. Die einem nach dem Referat, für das man Blut und Wasser geschwitzt hat, nicht in die Augen gucken. All das.

Aber all das ist nicht das Problem. Das Problem eines Studiums in Deutschland ist, dass kein Mensch die Uni liebt, hasst oder wenigstens respektiert. Immerhin ist die Uni die größte staatlich geförderte Institution zur individuellen Selbstverwirklichung. Ein Studium müsste mehr sein als die Zeit zwischen der Orientierungseinheit und der sich dehnenden Marter des Examens.

Eigenartigerweise vergessen aber alle, die ihren Abschluss überstanden haben, ihre Zeit an der Uni sofort wieder. Nichts bleibt hängen, man hat fünf, sieben oder neun Jahre an einem Ort verbracht, der weder Herz noch Gedächtnis zu prägen vermochte. Das bedeutet nichts weniger, als dass sich in Deutschland nie jemand mit dem Thema Hochschulbildung hinterm Ofen hervorlocken lassen wird. Die Folgen davon sind klar: Hochschulpolitik in Deutschland bleibt Glückssache. Wahlen werden mit anderen Themen gewonnen.

Das ist zum Beispiel in Großbritannien nicht so. Fragen der Studienfinanzierung, des Hochschulzugangs und der Qualität der Abschlüsse sind in britischen Medien Dauerbrenner. Jedes Kind weiß, was Oxford und Cambridge sind, und die Debatte, ob gerade diese beiden Universitäten ihre herausgehobene Stellung eigentlich verdient haben, ist Gesellschaftsthema. Das liegt natürlich erst einmal daran, dass Großbritannien mit den Resten der Klassengesellschaft zu kämpfen hat – Elitenförderung ist hier nach wie vor auch eine Sache der Geburt, keine des Talents. Das liegt aber auch daran, dass die Universität zum Gegenstand kultureller Produktion geworden ist. Bücher erzählen von der Universität als Lebensraum einer ganz eigenen Spezies Mensch, deren Lebensgewohnheiten literaturfähig sind.

Niemand hat dies besser erkannt als David Lodge, ehemaliger Professor an der Universität Birmingham. Seine Romane – „Ortswechsel“ („Changing Places“, 1975) oder „Kleine Welt“ („Small World“, 1984) etwa – wurden Bestseller und waren stilbildend für das Genre der campus novel. Lodge erzählt von den Herausforderungen, denen ein verheirateter Prof im Angesicht hunderter Nachwuchswissenschaftlerinnen ausgesetzt ist, er charakterisiert die Uni als eine Art Planet, der gleichzeitig von den Mächten des Chaos und denen der Langeweile regiert wird, und schildert, wie ein akademischer Kongress, auf dem haufenweise renommierte Denker den Forschungsstand auf Hochglanz bringen sollen, sich für einen Teilnehmer auf die Frage des besten Hotelzimmers und die Aufgabe, seine Widersacher öffentlich zu demütigen, reduziert. Das ist menschlich, das macht Spaß und das widerlegt die Annahme, dass alle Wissenschaft totes Fleisch sei, kurz: Das macht die Universität lebendig, auch wenn beziehungsweise gerade weil es ihrem Ruf schadet.

Die campus novel à la Lodge hat natürlich kein Monopol auf die Ästhetisierung des Akademischen. Sie hat ihre Unterarten ausgebildet: Vor allem den Campuskrimi, der so, wie die campus novel sich vornehmlich vom Gegensatz von Wissenschaft und Sex speist, vor allem vom Kontrast zwischen Mord und rechtschaffener Institution lebt. Und der Diskurs der campus novel ist anschlussfähig: Viele anglo-amerikanische Romane verarbeiten Teile des Collegelebens, nutzen den Campus als Hintergrund für ganz andere Geschichten.

Bret Easton Ellis etwa hat mit seinem zweiten Buch „Einfach unwiderstehlich“ („The Rules of Attraction“, 1987) eine Art Studie über studentisches Sexleben vorgelegt. John Irving bettet die Ehebruchsgeschichten seiner „Mittelgewichtsehe“ („158-Pound-Marriage“, 1990) in eine kleine Collegegemeinde ein. Die Art, wie in der campus novel und ihren Verwandten Studium und Akademikerdasein chiffriert werden, kennt in der deutschen Literatur schlichtweg kein Äquivalent.

Es ist allerdings der Collegefilm, der uns noch viel eindrücklicher als jedes Buch mit Bildern der Universität versorgt. Ungezählt sind die Streifen vor allem aus Hollywood, die uns vom Konkurrenzkampf der Studierenden und vom Partyleben am College erzählen. Man kennt sie, knapp Zwanzigjährige mit Halbliter-Plastikbierbechern, die in die Blumenrabatten des Campus kotzen, nervöse Erstsemester, die zu spät zur Vorlesung kommen, sich wuselig zwischen die Holzbänke klemmen und in die Dozentin verlieben, zum Abschlussball aufgebrezelte US-Blondinen, die von ihrem Macker in der gemieteten Limousine abgeholt werden, die Aufstellung im Talar und mit eckiger Diplomkappe zum Examensfoto.

Der Diskurs der Political Correctness, wonach sich kein Lehrkörper mehr mit einer Studentin alleine treffen darf, ohne dass es echten Ärger gibt, der Streit um Affirmative Action, wonach schwarze Studierende angeblich ungerechtfertigt Studienförderung erhalten – das gehört zum Debatten- und Bilderschatz auch der deutschen Öffentlichkeit, die sich auf diese Weise mehr an den US-amerikanischen Unis zu Hause fühlt als an den eigenen Einrichtungen.

Nun ist in Großbritannien wie in den USA die Hochschulbildung standardisiert. Alle fangen mit achtzehn an und sind mit 22 fertig, und dazwischen haben sie ein lifetime maximum an Drogen konsumiert. Deutsche Studierende dagegen sind zwischen achtzehn und 68, wenn sie anfangen, und vier bis vierzig Jahre älter, wenn sie aufhören. Das sich anschließende Leben als Akademiker ist an der englischen oder amerikanischen Uni nicht vom einsam-verzweifelten Kampf um die nächste C1-Stelle und die Habilitation geprägt, sondern von der sozialen Kontrolle durch die scientific community.

Doch daran liegt es nicht, dass die deutsche Universität keine Bilder von sich kennt, keine Sitten und Rituale, eben all das, was es zur Identifikation und Kulturalisierung bräuchte. Das anglo-amerikanische Hochschulsystem hat sich als kulturell ertragreicher, als insprierender erwiesen als das humboldtsche Modell, das mit der „Massenuniversität“ überfordert wurde. Es ist an den deutschen Universitäten, den egalitärsten der Welt, nicht gelungen, ein Gefühl von Gleichheit und Übertragbarkeit von Verhältnissen herzustellen. Von der Sozialdemokratie haben die Universitäten den Anspruch „Bildung für alle“ übernommen, aber die notwendige Solidarität mit allen ist dabei verschütt gegangen.

Und es ist nicht zu erwarten, dass mit der Angleichung des deutschen Hochschulwesens an internationale Standards plötzlich ein Bildervorrat produziert würde, der diesen Mangel aufzuheben im Stande wäre, im Gegenteil. Zwar bemühen sich die Hochschulen seit den Neunzigerjahren um „Profile“, das heißt, dass sie Unternehmensberater und akademische Gremien damit beschäftigen, herauszufinden, was die eine Uni von der anderen unterscheidet. Zwar sind mit der Ankunft der geburtenschwachen Jahrgänge an den Hochschulen auch die Erstsemesterzahlen gesunken, und durch die Einführung von Studiengebühren und -kontrollen wird auch hier ein akademischer Mainstream hergestellt, wie man ihn bislang nicht kannte.

Zwar gibt es jetzt eine Graduiertenförderung und bald auch „Juniorprofessuren“, die der psychisch korrumpierenden Abhängigkeit vom Doktorvater entgegenwirken. Zwar werden parallel zu den Maßnahmen zur Verminderung der Studienfreiheit auch nette Rituale geschaffen: So werden Studienabgänger von der Uni Hamburg neuerdings zu einer kleinen Abschlussfeierlichkeit eingeladen.

All das heißt aber nicht, dass die Uni dadurch eine Herzensangelegenheit würde. Solche Feiern, wie sie in Hamburg und woanders jetzt mit Prosecco und Cräckern ausgerichtet werden, sind allen Beteiligten peinlich. Ein Bewusstsein von Identität lässt sich nicht herbeistudienreformieren. Dazu braucht es Traditionen. Die sind zwar einerseits sowieso immer peinlich, andererseits ist man aber wenigstens nicht die beziehungsweise der erste Blöde, der sich ihnen unterwirft. Dauert eben ein Weilchen, bis man das Beste draus zu machen gelernt hat. Kann man ja dran arbeiten.

ULRIKE WINKELMANN, 30, ist Inlandsredakteurin der taz. Sie hat in Hamburg und London Germanistik, Politologie und Jura studiert