Letzter Jünger Jesu, einsam im Hinterhof

■ Wiebke Puls in Dea Lohers „Berliner Geschichte“ im Malersaal

Ein Mann allein. Ein schlacksiger Mann in einer viel zu kleinen Wohnung, oder besser einem Zimmer. Der metallene Sound der In-dustrialrocker Rammstein dröhnt über die Köpfe der Zuschauer hinweg. Wir sind mitten in der Berliner Geschichte, erzählt von der Autorin Dea Loher und Regisseur Andreas Kriegenburg. Ursprünglich war die Inszenierung am Schauspiel Hannover beheimatet. Dass es nun eine Hamburg-Premiere gab, liegt an der einzigartigen Hauptdarstellerin, die mittlerweile fest am Schauspielhaus arbeitet, Wiebke Puls.

Ihre Wandlungsfähigkeit sucht ihresgleichen. Hier ist sie mit jeder Faser ihres Körpers dieser traurige große, dünne Mann, Kellner im Berliner Café Baba, der mit sich und seiner Umwelt nicht mehr zurechtkommt. In einer Erdgeschoss-wohnung in einem Berliner Hinterhof vegetiert er seit zwölf Jahren. Die Fenster hat er verhängt. Einzige Lichtquelle sind die fünfmarkstückgroßen Löcher, die er selbst in die Wände bohrt. Außerdem hat er eine Katze, die er „seinen Freund“ nennt. Seine Weltsicht ist so schwarz-weiß gefärbt wie die Wände seiner Kammer, die Bösen verursachen Lärm, die Guten nicht. Er spricht vor sich hin, in der dritten Person. Von der Elektrischen auf dem Alexanderplatz. Von den Baustellen in der ganzen Stadt. Von seiner Gaspistole, die er seit einem Überfall auf das Café Baba mit sich führt.

Sonntags predigt er seinen Nachbarn im Hinterhof als Jesus' letzter Jünger auf Erden. Dazu springt Wiebke Puls periodisch auf, wankt ungelenk durch das Zimmer und beginnt, sich exzessiv selbst zu befriedigen, bis ihr das Croissant, dass sie vorher noch in den Mund gestopft hatte, aus den Zähnen quillt.

Kriegenburg spart nicht den Ekel aus, den Brechreiz, den die Großstadt verursacht. Eingestreut in dem Text finden sich Zitate aus Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz. Und der Kellner schimpft weiter, auf die Isländer, die zwar ruhig waren, aber die besseren Wohnungen bekamen und auf die Afrikaner, die sonntags laut sangen und eines Tages von der Polizei abgeholt wurden. Die Hausgemeinschaft nennt ihn Verräter, Nazi oder einfach einen armen Irren. „Dann lasst mich doch endlich abholen“, schreit er zurück.

Das Stück ist beklemmend, aber von ungeheurer sprachlicher und darstellerischer Wucht. Was man hier sieht, ist leider kein Einzelfall in den Millionenstädten von heute, in denen Tote manchmal unentdeckt ein Jahr lang in der Wohnung liegen, während im Fenster noch der Weihnachtsbaum blinkt.

Annette Stiekele

nächste Vorstellungen: 31.10., 1.11., 20 Uhr, Malersaal