Schichten der Erinnerung

Die Kulturgeschichte Vietnams getanzt: Ea Solas „Requiem“, als Gastspiel präsentiert auf Kampnagel, gibt verschütteten Bräuchen eine zeitgenössische Form  ■ Von Marga Wolff

Männer und Frauen, junge und alte, schieben sich in prozessionsartiger Reihe auf die Bühne. Andere kreuzen diagonal im schnellen Lauf ihren Weg. Schlicht und unauffällig ist ihre beige-braune Kleidung. Doch umso deutlicher sprechen dafür die Gesten, Körper und Gesichter der insgesamt 22 Darsteller in Ea Solas Requiem, einem puren Volkstheater aus Tanz und Musik.

Es sind Menschen aus den Bergen und Dörfern im Norden Vietnams, die die vietnamesisch-französische Choreografin auf die zeitgenössischen Tanzbühnen holt. Mit ihnen hat sie nach ihrer Rückkehr aus dem Pariser Exil in jahrelangen Recherchen die Bräuche, Riten und Traditionen der von Krieg und Kolonialismus verschütteten Kultur Vietnams wieder zum Leben erweckt und mit der modernen Formensprache ihrer europäisch beeinflussten Kunst zusammengebracht. Den Schmerz über den Verlust von Heimat haben sie gleichermaßen erlebt. Und in Ea Solas viertem Stück ihres Vietnam-Zyklus Requiem, das gerade auf Kampnagel gastiert, bricht er noch einmal mit Wucht hervor.

Aus dem Laufen und Schreiten formieren sich die Darsteller frontal zum Publikum, gehen vor und wieder zurück, als würden sie von einer unsichtbaren Wand abprallen. In scharfen Wendungen drehen sie sich auf der Stelle, marschieren immer wieder in fast grotesk ausholenden Schritten. Ihr Tanz lässt an ein strenges Ritual denken. Die synchronen Bewegungen überlagern sich darin wie Schichten von Erinnerung, die sich Hülle um Hülle entblättern. Dann reißt es einen um den anderen aus dem Gleich-takt. Ein wildes Aufbegehren packt den Körper, verzerrt das ansonsten so klar beherrschte Gesicht. Doch findet der Körper mit eigener Kraft zurück in die Form, getragen von Energie und Puls der Masse- und vom rasenden Takt der Musik.

Die Musiker stehen an hölzernen Tischen, die im Schein der von der Decke baumelnden Lämpchen an Werkbänke erinnern, auf denen die Instrumente zur Bearbeitung bereit liegen. Denn das Musizieren ist hier harte, konzentrierte Arbeit. Unerbittlich schlagen die Trommeln ihre treibenden Rhythmen, stimmen Streichinstrumente eine flirrende Kakophonie des Dschungels an. Urplötzlich ist es dann wieder totenstill.

Die Musik ist inspiriert von Ea Solas religiöser Spurensuche der buddhistisch geprägten Kultur Vietnams. Jedoch veranlasste sie ihre Musiker zu einer neuen, zeitgenössischen Komposition, gespielt auf eigens für das Stück gefertigten Instrumenten. Darunter mischen sich Geräusche der Straße und das eindringliche Murmeln und Summen der Darsteller.

Requiem ist ein Totengesang, der hier poetisch und sehr weltlich, dabei aber mit ästhetischer Strenge zelebriert wird. Mit weißen Taschentüchern, auf denen gleich einer Totenmaske fotografische Abbildungen des eigenen Gesichts zu sehen sind, verdecken die Darsteller ihr Antlitz. Es sind auch ganz persönliche Verluste, die Ea Sola hier beklagt, wie der Tod ihres Lebensgefährten Roland Topor.

Dann tanzt sie – und es ist das erste Mal, dass sie selbst in einem ihrer Stücke auftritt – in das braune Tuch hinein, das ein Tänzer mit weit gespannten Armen für sie bereithält, in das er sie einwickelt von Kopf bis Fuß. Ruhiger, gelöster taucht sie wie aus tiefer, weltabgewandter Trauer wieder auf und gleitet schließlich davon, verschwindet zwischen hölzernen Paravents, ohne sich noch einmal umzuschauen.

Ganz vorne am Bühnenrand, mit dem Rücken zum Publikum, hat die ganze Zeit über ein Mann gesessen. Ein stiller Beobachter, Zeuge der Geschichte vielleicht. Denn angeblich ist er bereits achtzig Jahre alt. Einmal jedoch dreht er sich um und lacht den Zuschauern hämisch ins Gesicht. Und dann befällt einen angesichts der hier leibhaftig stattfindenden Klage über Tod, Verlust und Krieg die ungemütliche Ahnung, dass die Vergangenheit die Gegenwart fast wieder eingeholt hat.

nur noch Sonnabend, 20. Oktober, 20 Uhr, Kampnagel (k2)