„Bald können neue Bin Ladens entstehen“

Der tunesische islamische Exilpolitiker Rachid Ghanouchi meint, der Einsatz des US-Militärapparats gegen Afghanistan erst mache Ussama Bin Laden zum Mythos: „Das erste Mal in unserer Geschichte gibt es einen solchen Helden“

taz: In ersten Erklärungen nach den Anschlägen in New York und Washington gestanden Sie den USA, das „Recht auf Selbstverteidigung“ zu. Stehen Sie auch nach den Bombardements in Afghanistan noch zu dieser Aussage?

Rachid Ghanouchi: Wir verurteilen nach wie vor die grausamen, terroristischen Aktionen vom 11. September. Es handelt sich dabei um ein Verbrechen. Aber dennoch können wir die Reaktion der USA nicht gut heißen. Wir sind gegen Krieg. Denn der Krieg hat nur noch mehr unschuldige Opfer zur Folge, das können wir Tag für Tag sehen. Krieg ist kein Lösung für das Problem des Terrorismus.

Was dann?

Wir müssen einen Weg finden, um die Verantwortlichen für die Anschläge vor ein internationales Gericht zu bringen. Dazu braucht es eine genaue Untersuchung über die Hintermänner.

Und wie soll das funktionieren?

Gut, das klingt in diesem Moment vielleicht utopisch. Aber im Fall des über Lockerbie abgeschossenen Pan-Am-Jumbo hat das auch funktioniert. Es war nicht leicht, aber letztendlich hat das Gericht die Verantwortlichen verurteilt. Es gibt bestimmt andere Möglichkeiten auf die Taliban Druck auszuüben als mit Bomben. Wir können kein ganzes Land für die Verbrechen einiger weniger bestrafen.

Wie würden sie das Taliban- Regime definieren?

Ich bin mit diesem Regime nicht einverstanden. Sie haben ein sehr konservatives Verständnis vom Islam. Das schadet dem Islam mehr als es ihm nutzt. Aber das gibt niemandem das Recht dieses Regime von außen zu stürzen, weder der UNO, noch den USA oder Großbritannien. Dies steht nur dem afghanischen Volk zu.

Wieso hat die islamische Bewegung ein solch starkes Gewaltpotenzial hervorgebracht?

Der Terrorismus kennt keine Religion und kein Vaterland. Es gibt überall Menschen und Gruppen, die versuchen ihre Ziele mit Gewalt zu erreichen. Das ist nicht spezifisch für den Islam. Die überwältigende Mehrheit der islamischen Bewegung ist gegen die Anwendung von Gewalt. Selbst dort, wo wir von diktatorischen Regimes, die übrigens meist die Unterstützung der westlichen Welt genießen, unterdrückt werden. Ich kann nur immer wieder betonen: Der Islam predigt nicht den Einsatz der Gewalt, um unsere Ziele zu erreichen.

Sie sind gegen Gewalt, zeigen aber dennoch immer wieder Verständnis für die Ursachen des Terrorismus.

Ich suche keine Rechtfertigung für die Gewalt. Aber ich versuche sehr wohl die Gründe dafür aufzuzeigen, warum junge Menschen zu der Überzeugung gelangen, Gewalt anwenden zu müssen. Ich möchte nur an Algerien erinnern. Dort kam es erst zu einem Ausbruch der Gewalt, nachdem die Armee geputscht und die bei den Wahlen siegreiche Islamische Heilsfront (FIS) verboten hat. Die Verantwortung für die Gewalt liegt in diesem Fall – wie in vielen anderen Ländern auch – bei den Diktatoren. Hinzu kommt der Kolonialismus, die ungerechten internationalen Verhältnisse zwischen Nord und Süd. Der beste Weg den gewalttätigen Gruppen in der islamischen Bewegung entgegenzutreten, ist die Suche nach den Ursachen und die Bekämpfung dieser Missständen. Die demokratischen und sozialen Rechte müssen eingehalten werden. Natürlich bedarf es auch einer Lösung für die Palästinenserfrage. Hierbei kann der Westen helfen. Die Gewalt wird dann ganz automatisch verschwinden.

Wird der Krieg gegen den internationalen Terrorismus auch Auswirkungen auf den Maghreb haben?

Die Bombardierung von Afghanistan, die Tötung unschuldiger Menschen, wird in vielen islamischen Ländern Auswirkungen haben. Der Einsatz des gesamten Militärapparates gegen eine kleine terroristische Gruppe schafft Mythen. Ussama Bin Laden wird mehr und mehr zum Volkshelden. Immer mehr Menschen sehen in ihm den großen Verteidiger der palästinensischen Sache, oder den großen Gegner des Regimes in Saudi-Arabien. In allen islamischen Ländern können Sie Fotos von Bin Laden sehen. Das ist das erste Mal in unserer Geschichte, dass es einen solchen Helden gibt. Es ist sicher nicht allzu schwierig, Bin Laden mit einer Rakete oder mit einem Spezialkommando zu töten, aber das ist nicht die Lösung. Denn schon bald können neu Bin Ladens entstehen.

INTERVIEW: Reiner Wandler