BERLIN: DIE WÄHLER HABEN VON DEN AKTIONÄREN GELERNT
: Doppelplus für die Sanierung

Der Wechselwähler ist ein scheues Reh. Von schlechten Nachrichten schnell erreicht und ebenso schnell verschreckt, verlässt er den bisherigen Standort und lässt sich erst dort wieder nieder, wo ihm weniger Ungemach droht. Zugleich wird er immer misstrauischer, immer mehr ist er auf dem Sprung, immer weniger akzeptiert er seine traditionellen Grenzen. Um Nutzen aus der Politik zu ziehen, nimmt er auch abgelegene Standorte in Kauf. Wird’s ihm zu viel, zieht er halt weiter.

Wo der Wähler so flüchtig geworden ist wie bisher nur der Aktionär, macht er seine Stadt zur Börse. Prozentschwankungen im zweistelligen Bereich kannten wir bisher nur vom Auftritt rechtsradikaler Parteien, sozusagen dem Neuen Markt des Parlamentarismus. Doch jetzt kommen solche Schwankungen auch im etablierten Lager vor, dem Dax der Politik. „Doppelplus“ nennen Börsianer Gewinne von über zehn Prozent – als Erstes haben die Hamburgerinnen und Hamburger gezeigt, dass sie das schaffen. Aus dem Stand auf 19,4 Prozent ist die Schill-Partei dort gekommen, weil sie gleich zwei Klienteln bediente, das rechtsradikale und rechtsbürgerliche. Im rein bürgerlichen Milieu schaffte die CDU Berlin das Gegenteil: ein Doppelminus von 17,1 Prozent. Ungeheuerlich aber auch die Teilung der Stadt in Ost und West, die sich im PDS-Ergebnis ausdrückt: ein Gefälle von über 40 Prozent der Wählerstimmen. Ein Fondsmanager in Westberlin würde jetzt alle seine Angestellten in den Ostteil der Stadt prügeln, um zu studieren, wie man solche Ergebnisse erhält. Und eine umsichtige Börsenaufsicht nähme die CDU Berlin kurzfristig vom Kurszettel und setzte den Handel aus, bis klar ist, wohin Vorstand und Aufsichtsrat – die Landes- und die Bundespartei – jetzt steuern.

Die Wähler haben aber auch von den Aktionären gelernt, sich verwöhnen zu lassen. Wer heutzutage sein Geld oder seine Stimme gibt, erwartet Erfolge oder überzeugende Projekte, nicht nur das geringere Übel – dazu ist die Auswahl jetzt zu groß. Bleibt die Rendite aus, werden alle Investoren gewissenlos. Dass etwa die PDS ein Drittel ihres Zuwachses von der CDU erhielt, zeigt: Erstens kann sich keine Partei mehr irgendeiner Klientel sicher sein, und zweitens verliert und verleiht man seine Stimme nicht mehr nur an seine „politischen Nachbarn“, sondern kreuz und quer über den Kurs- beziehungsweise Wahlzettel. Auch darin macht es der Wähler einem Aktionär nach: Er ist umso effizienter, je weniger er an einem Titel seines Aktiendepots hängt. Für die Parteien heißt das, von den Unternehmen zu lernen. Für einen ehrlichen Sanierungskurs gibt es dann beim nächsten Mal das, was die Wähler in Berlin diesmal zu Recht verweigerten: ein Doppelplus. DIETMAR BARTZ