Flüchtlinge drängen zur Grenze

Immer mehr Menschen fliehen aus Afghanistan nach Pakistan. Die Arbeit der Hilfsorganisationen wird durch Diebstahl und Bombardierungen schwieriger

DELHI taz ■ Die Not im Grenzgebiet wächst. Die Konzentration der Luftangriffe auf den Süden Afghanistans hat den Druck auf die Grenzposten in der pakistanischen Provinz Belutschistan erhöht. Die Grenzpolizei hatte am Freitag die Kontrollen gelockert. Das führte am Übergang Chaman zu mehr als 3.500 Grenzübertritten. Als die Behörden am Samstag die Grenze wieder schließen wollten, kam es nach Angaben von Hilfswerken zum Sturm auf die Barrieren. Binnen kurzer Zeit sollen so mehr als 5.000 Flüchtlinge nach Pakistan gelangt sein; weitere 10.000 warten auf der afghanischen Seite darauf, herübergelassen zu werden. Daneben gibt es an dieser offenen Grenze in der Wüste zahlreiche Schleichwege und Schmuggelpfade; gegen Geld sind Schlepper bereit, täglich Hunderte über die imaginäre Grenzlinie zu führen.

Ein wachsender Teil der Flüchtlinge sollen Frauen, alte Leute und Kinder sein. Das könnte bedeuten, dass die neue Migrationswelle nicht mehr nur aus Leuten besteht, die mit Hab und Gut aus den Städten, insbesondere Kandahar, geflohen sind. Diese Binnenflüchtlinge bewegten sich bisher auf die Städte und Straßenkreuzungen zu, wo sie hofften, von einem internationalen Hilfswerk gefunden und versorgt zu werden. Mit den Luftangriffen auf die Machtzentren der Taliban, die auch Bevölkerungszentren und Verkehrsknotenpunkte sind, haben die Flüchtlinge nur noch die Wahl zwischen der Rückkehr in ihre verarmten Dörfer oder an die Grenze. Laut UN-Flüchtlingskommissar Ruud Lubbers könnte die Zahl der Flüchtlinge demnächst auf rund 1,5 Millionen steigen.

Ein weiterer Grund für den zunehmenden Druck auf die Grenzen ist die auseinanderfallende Versorgungsinfrastruktur der Hilfswerke in Afghanistan. Auch hier sind die Luftschläge nur die indirekte Ursache. Die Berichte mehren sich, dass Büros, Lagerhäuser und Inventar geplündert werden. Die Organisation Ärzte ohne Grenzen soll bereits die Hälfte ihres Wagenparks verloren und auch das UN-Minenräumprogramm soll 80 Fahrzeuge eingebüßt haben.

Verbreitet ist auch der Diebstahl von Satellitentelefonen und Funkgeräten, die die Kommunikation mit den Zentralen in den Nachbarländern Pakistan, Iran und Turkmenistan ermöglichen. Das erschwert die Planung für weitere Nahrungsmittelkonvois. Der Kommunikationsabbruch erhöht zudem die Risiken für die Mitarbeiter, denen der Kontakt mit dem Ausland ein Minimum an Sicherheit gewährt.

Für den pakistanischen Außenminister Abdus Sattar ist die zunehmende Kriminalität ein Indiz, dass die Autorität der Taliban allmählich ins Wanken gerät. Der UN-Koordinator für Afghanistan in Islamabad, Carlo Donini, wollte sich allerdings nicht über die Zugehörigkeit dieser Banden äußern. Es könne sich um Taliban handeln, sagte er, aber auch um marodierende lokale Milizen, oder Teile von ausländischen Einheiten, die sich in erster Linie mit Material eindecken wollen, das ihnen zur Fortführung des Kriegs dient. Unter diesen Umständen wird das Risiko für neue Nahrungsmittelkonvois zu groß, um so mehr, als die letzten Lastwagenzüge bereits zur Zahlung von Brückenzöllen – bis zu 25 Prozent des mitgeführten Getreides – gezwungen wurden. Falls es nicht gelingt, vor dem ersten Schnee Nahrung in die Gebirgsregionen zu schaffen, könnte es dort bald zu einer Hungersnot kommen. BERNARD IMHASLY