Wirtschaft am Rand der Rezession

Die Mehrheit der deutschen Wirtschaftsinstitute schwenkt um und fordert statt Sparpolitik Neuverschuldung und vorgezogene Steuerreform

von HANNES KOCH

Allzu viel geben die sechs wichtigsten Wirtschaftsforschungsinstitute der Republik selbst nicht mehr auf ihre Zahlen. Erläuterten die Ökonomen gestern um 11.15 Uhr noch, dass die Wirtschaft im kommenden Jahr schon wieder viel besser laufe, so fragte Gustav-Adolf Horn eine Dreiviertelstunde später: „Gilt dieses Szenario denn noch?“ Die Antwort des Konjunkturexperten vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW): „Aus der Welt ist nicht, dass es schlimmer kommt.“ Vom „Rande der Rezession“ würde die deutsche Wirtschaft 2002 dann ins Tal der Krise stürzen.

Ein Wachstum von 1,3 Prozent gibt es nächstes Jahr nur, sagen die Forscher, wenn die politische Weltlage nicht noch weiter durcheinander gerät: ein kurzer Krieg in Afghanistan, normale Ölförderung in Arabien, keine weiteren Terrorangriffe. Sind solche Voraussetzungen nicht schon überholt? Die Milzbrand-Attacken und ihre Wirkung auf die Konsumenten, so Horn, wurden zum Beispiel noch nicht einkalkuliert. So wäre es nicht das erste Mal, wenn die Konjunkturforscher ihre Angaben demnächst korrigieren müssten. Vor genau einem Jahr sagten sie für 2001 ein Wachstum von 2,7 Prozent voraus, im Frühjahr sollten es noch 2,1 werden, die aktuelle Zahl lautet: Um nur noch 0,7 Prozent nimmt das Bruttoinlandsprodukt (BIP) zu.

Die neue Weltlage und die massive Verunsicherung der Forscher münden in einen Paradigmenwechsel. Erstmals fordern fünf der sechs Institute, dass der Bundesfinanzminister mehr Kredite aufnehmen soll als geplant. Während früher oft das DIW auf verlorenem Posten für die Förderung der Nachfrage und eine weniger rigide Haushaltspolitik kämpfte, steht diesmal das liberale Institut für Weltwirtschaft aus Kiel alleine da, indem es die Sparpolitik weiter hochhält.

Die Forscher stellen sich die Konjunkturspritze so vor: Zum einen soll der nächste Schritt der Steuerreform von Anfang 2003 auf nächsten Januar vorgezogen werden. Das würde die Einkommensteuerzahler um rund 13,5 Milliarden Mark entlasten. Auch untere Einkommensschichten würden früher von dem dann auf 17 Prozent gesenkten Eingangssteuersatz profitieren und, so hoffen die Ökonomen, mehr Geld in die Geschäfte tragen. Zweitens sollen die Bundesregierung und auch die Bundesländer mehr Mittel an die Gemeinden überweisen, damit dort ein paar Fußwege neu gepflastert werden können. Um beides zu finanzieren, müsste SPD-Finanzminister Hans Eichel rund 20 Milliarden Mark zusätzliche Schulden aufnehmen, schätzt DIW-Forscher Horn. Rechnet man die Angaben der CDU für mögliche Steuerausfälle hinzu, von denen Eichel freilich nichts wissen will, steigt die zusätzliche Verschuldung auf etwa 40 Milliarden Mark. Damit würde Deutschland zwar vom Konsolidierungskurs abweichen, weil es das Haushaltsdefizit nicht planmäßig weiter senkt. Doch das Verschuldungskriterium des europäischen Maastricht-Vertrages -– drei Prozent Kreditaufnahme im Verhältnis zum BIP – würde noch immer eingehalten.

Sowohl aus der CDU als auch vom Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) erhielten die Institute gestern Rückendeckung. BDI-Chef Michael Rogowski sprach sich dafür aus, die Steuerreform auf 2002 vorzuziehen. In diese Richtung äußerten sich ebenfalls Vertreter des Bundesverbandes Deutscher Banken und des Industrie- und Handelstages. Die Regierungskoalition weiß Finanzminister Eichel fast komplett hinter sich.

Die Grünen unterstützen seine Politik, die Schulden nicht zu erhöhen. Die grüne Finanzexpertin Christine Scheel sagte der taz, dass es im kommenden Jahr „genug Investitionsanreize“ gebe, die die Wirtschaft beleben könnten. Sie nannte besonders die fünf Milliarden Mark zusätzlicher Ausgaben im Rahmen des Zukunftsinvestitionsprogramms und eine Steuerentlastung in ähnlicher Höhe durch die Familienförderung. Die Wirtschaftsforscher sollten „aufhören mit ihrer Schwarzmalerei“, so Scheel.

Und die Institute mögen noch so gut begründen, dass die Wirtschaft schrumpfen könnte anstatt zu wachsen – Bundeskanzler Gerhard Schröder behauptet das Gegenteil: „Bei uns droht keine Rezession, und wir sollten sie auch nicht herbeireden.“