Pioniere der Weltwirtschaft proben den geordneten Rückzug

Investoren halten sich zurück, Verbraucher sind verunsichert, Kredit- und Versicherungsfirmen denken um: Indizien für Sicherheitsdenken statt Aufbruchstimmung in den USA

BERLIN taz ■ „Die Welt ist nicht mehr so, wie sie vor dem 11. September war“: Kaum irgendwo trifft der Satz so zu wie in der Weltwirtschaft und vor allem in der US-Wirtschaft. Die dort in den letzten Jahren zelebrierte Aufbruchseuphorie von Unternehmern und die oft zitierte Leichtsinnigkeit der Verbraucher sind einem neuen Sicherheitsdenken gewichen. Offensichtlichste Indizien dafür sind nachlassende Investitionen und die verringerte private Nachfrage. Zusätzlich ändern aber auch viele Unternehmen im Versicherungs- und Kreditbereich ihre Strategien. Von allen Seiten wird der Ruf nach mehr Staat laut. Und zumindest die Regierungen in den USA und Frankreich haben bereits mit entsprechenden Milliardenprogrammen reagiert.

Tatsächlich hat sich die weltweite Wirtschaftssituation dramatisch verschärft. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD hat den führenden Industrienationen in ihrem jüngsten Bericht das schlechteste Jahr seit 1982 attestiert. Durchschnittlich werden die Bruttoinlandsprodukte – die Summen aller im Inland produzierten Waren und Dienstleistungen – in diesem Jahr nur um ein Prozent zunehmen; noch im Mai hatten die Experten mit doppelt so viel gerechnet. Besonders frustriert, dass die OECD für viele Länder ein noch schlechteres Jahr 2002 erwartet. In diesem Jahr trifft es die Türkei am härtesten, deren Wirtschaft wohl um mehr als sechs Prozent schrumpfen wird. Am stärksten revidiert werden mussten die Prognosen für Japan, das sich entgegen dem vorhergesagten knappen Wachstum längst in der Rezession befindet, und für Deutschland, das mit 0,7 Prozent noch unter dem OECD-Durchschnitt bleiben soll.

Ob der 11. September die Ursache dafür ist oder den Verantwortlichen nur verschleiern hilft, dass sie den allgemeinen Konjunktureinbruch unterschätzt haben, wagt kaum jemand zu sagen. Sicher ist, dass in den westlichen Staaten seitdem kaum eine Bilanz vorgestellt wird, die ohne den Verweis auf die Anschläge und die „unsichere globale Lage“ auskommt. Und Erklärungen sind derzeit notwendig: Durchschnittlich mussten die 500 im Standard & Poor’s Index gelisteten Unternehmen ihre Ergebnisprognosen im dritten Quartal bislang um 22 Prozent nach unten revidieren. Am schlechtesten kamen dabei die Technologieunternehmen weg, der Markt für Personalcomputer brach nahezu komplett ein.

Besonders heftig trifft es neben den Fluggesellschaften die Flugzeughersteller. Die weltgrößten mussten ihre Umsatzprognosen mächtig herabsetzen: Boeing, das letztes Jahr gerade die Wende zum Aufschwung geschafft zu haben schien, ebenso wie der europäische Konkurrent Airbus. In Folge der Flugzeugentführungen seien die Passagierzahlen so dramatisch gesunken, dass der Bedarf an zivilen Flugzeugen zurückgegangen sei, erklärte Boeing-Chef Phil Condit. Dabei kann er sich sogar noch freuen: Unter seiner Leitung hat der Konzern sich wieder stärker auf Rüstung konzentriert. Analysten erwarten, dass Boeing ein Drittel, vielleicht sogar die Hälfte der drei Milliarden Dollar abgreifen kann, die die US-Regierung mehr für Rüstung ausgeben will. Trotzdem wird erst mal abgebaut – bis Ende 2002 rund 30.000 Stellen, was das Boeing-Ergebnis wegen der Abfindungen weiter schmälern wird.

Auch auf Kultunternehmen wie Coca-Cola oder Polaroid, für Anleger bisher eine sichere Bank, ist kein Verlass mehr. Coca-Cola kündigte für dieses Jahr ein Nullwachstum an, Polaroid hat Konkurs angemeldet.

Besonders unglücklich wirkt da, dass sich auch für die Finanzbranche, die eigentlich Gelder für Investitionen und Sanierungen bereitstellen sollte, die Welt verändert hat. Versicherer wie auch Kreditunternehmer fragen, wie sie Risiken noch kalkulieren können, wenn „plötzlich das Undenkbare denkbar geworden“ ist.

Nachdem die Schadenersatzansprüche im Zusammenhang mit den Anschlägen auf 30 bis 60 Milliarden Dollar geschätzt wurden, wollen Versicherer in Europa und den USA Schäden durch Terror nicht mehr allein versichern und fordern staatlichen Auffangschutz. „Man weiß in etwa, wie wahrscheinlich ein Hurrikan auftritt, und ein Hurrikan von heute ist einem von vor 25 Jahren ziemlich ähnlich“, so Warren Buffet, Chef von Berkshire Hathaway, dem mehrere große Versicherer gehören. Beim Terrorismus sei das ganz anders. Hier habe sich das Risiko in denselben 25 Jahren heftig verändert. „Aber wir wissen nicht, ist es der Faktor 10 oder der Faktor 50?“ Kein Wunder, dass viele Konzerne ihre Strategie überdenken: Unbegrenzte Policen, die fast jeden Schaden abdeckten, wurden durch enger formulierte abgelöst.

Auch Geldgeber und Kreditunternehmen sind vorsichtiger geworden; bei Neuinvestitionen sowie bei direkten Verbraucherkrediten. Die großen Kreditkartenfirmen haben angekündigt, ihre Firmenphilosophien zu überdenken und künftig genauer zu sehen, an wen sie Karten ausgeben. Außerdem wollen sie ihre Gebühren erhöhen.

Das ist so ziemlich das Gegenteil von dem, was die US-Wirtschaft die letzten Jahre vorangetrieben hat, als jeder eine Kreditkarte erhalten konnte, und zu jedem Start-up gleich eine Hand voll Investoren parat standen. Und genau deshalb kann es zum Problem werden. Schon vor dem 11. September war die Verbraucherstimmung deutlich schlechter. Im September rutschte der Einzelhandelsverkauf um 2,4 Prozent ab, Pkw wurden sogar 9,1 Prozent weniger verkauft. Einer Umfrage des Conference Board zufolge rechneten Mitte September 47 Prozent der Haushalte mit einer Rezession, auch wenn fast 90 Prozent an ihren Anschaffungsplänen festhalten wollten. Dies allerdings, glauben die Experten des Conference Board, wird sich schnell ändern, wenn die Zahl der Massenentlassungen zunimmt.

Ein Unternehmen allerdings dürfte auch davon wenig beeindruckt sein: Pepsico, zu dem neben der Getränkemarke Pepsi auch der Snackbereich Fritolay gehört, verkündete Anfang Oktober eine Umsatzsteigerung um 8 und einen Gewinnanstieg um 11 Prozent. Warum? „Was machen Amerikaner, wenn sie wirklich gestresst und verängstigt sind?“, fragt CNN-Kolumnist Michael Sivy. „Sie besorgen sich erst mal was zu knabbern.“ Es gebe eben Dinge, die änderten sich nie.

BEATE WILLMS