Neoliberal, global, nicht egal

■ Buchvorstellung: Ein Schwerpunktheft der Zeitschrift „1999“ zum Verhältnis von Neoliberalismus und Staat

Mehr Staat: Das ist derzeit offensichtlich das Ziel sowohl regionaler als auch nationaler Politiken. Was Schill und Schily gerade ausbrüten, mag dafür als Beispiel genügen. Und auch global verlässt man sich wie gewohnt auf Regularien, wie etwa das Militär, die einem starken Staat zuzurechnen sind. Und dabei sind sich doch Gegner wie Verfechter eigentlich einig darüber, dass der Neoliberalismus die gegenwärtig herrschende Form des Kapitalismus ist. Und gehört nicht zum Liberalismus der „schlanke“, der „Nachtwächter“-Staat?

„Neoliberalismus als Herrschaftsform“ heißt ein Schwerpunktheft der Zeitschrift 1999, das diesen Glauben dorthin verweist, wo er hingehört: ins 18. Jahrhundert, als es galt, den Einfluss des übermächtigen absolutistischen Staates zugunsten ökonomischer Freiheit zurückzudrängen. Das heutige Nebeneinander von starken Staaten und einem „entfesselten“ Markt dagegen ist in dem, was neoliberale Think tanks in der Zeit nach dem II. Weltkrieg ausgebrütet haben, bereits vorgesehen.

Besonderes Augenmerk legt das Heft daher auf die Mont Pèlerin Society, in der sich seit 1949 neoliberale Vordenker beispielsweise aus der Schweiz, aus den USA, aber auch aus Deutschland organisierten. Mitherausgeber Karl Heinz Roth widmet seinen Beitrag dem bislang unterschätzen Einfluss des Think tank auf das Bundeswirtschaftsministerium unter Ludwig Erhard in den 50er Jahren. Bernhard Walpen und Dieter Plehwe verfolgen am Beispiel Chiles, wie zur Zeit Pinochets die ökonomischen und ordnungspolitischen Vorstellungen der Neoliberalen über direkte Beratungen durch Mitglieder der Mont Pèlerin Society erstmalig Wirklichkeit werden konnten.

Andere Aufsätze, wie der von Thomas Lemke zu „Michel Foucaults Analyse der neoliberalen Gouvernementalität“ oder „Varianten des autoritären Liberalismus“ von Marco Tullney und Dorothee Wolf betonen vielleicht etwas zu stark den geistesgeschichtlichen Aspekt des Neoliberalismus und vergessen darüber eine Erörterung, wie sich denn das Denkmodell eigentlich so umfassend durchsetzen ließ. Sehr plastisch wird aber dargelegt, wie in den Vorstellungen der Neoliberalen Staat und Marktwirtschaft einander voraussetzen und wie die Wissenschaftler stets neben ökonomischen auch herrschaftspolitische Modelle entwarfen.

Etwas quer zu den übrigen Beiträgen steht derjenige von Ranjana S. Sarkar. Ihr gelingt es nachzuweisen, dass die Privatisierung der Telefon-Company AT&T nicht, wie gemeinhin angenommen, Folge einer Deregulierung durch staatliche Institutionen war, sondern auf das Konto von Großanwendern, der EDV- und der Endgeräteindustrie geht.

Das Heft zu Neoliberalismus als Herrschaftsform soll heute von Karl Heinz Roth und dem Redaktionsmitglied Tobias Mulot vorgestellt und diskutiert werden. Seiner notwendigen Differenzierungen des meist schlagwortartig gebrauchten Begriffs „Neoliberalismus“ wegen gehört es darüberhinaus auf den Nachttisch eines jeden Globalisierungsgegners.

Christiane Müller-Lobeck

heute, 19.30 Uhr, Heine-Buchhandlung (Schlüterstr. 1); 1999 – Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, Heft 2/01, Peter Lang, Bern, 220 S., 35 Mark; Bestellungen: www.peterlang.net