In Serbien tickt eine soziale Zeitbombe

Ein neues Arbeitsgesetz soll die Abschaffung unrentabler Arbeitsplätze ermöglichen. Gewerkschaften machen mobil

BELGRAD taz ■ Das neue von der serbischen Regierung vorgeschlagene Arbeitsgesetz könnte die bisher größten sozialen Unruhen in Serbien auslösen. Vier Gewerkschaften drohen mit Generalstreik, Massenprotesten und Straßenblockaden, sollte die Regierung ihre Kritik an dem Gesetz nicht berücksichtigen.

Am Dienstag erzielten die Gewerkschaftler ihren ersten Sieg. Mit Rufen wie „Nieder mit der Regierung!“ demonstrierten rund 20.000 Arbeiter vor dem Parlament in Belgrad. Einzelne Demonstranten versuchten mit Gewalt in das Parlamentsgebäude einzudringen. „Mit diesem Gesetz wollen sie es sich nur einfacher machen, uns zu feuern!“, brüllte der Führer der „Unabhängigen Gewerkschaft“, Milenko Smiljanić. Dabei sei ein Sozialprogramm gar nicht vorhanden.

Erst nach einer harten Debatte zwischen Abgeordneten der regierenden DOS und Gewerkschaftsführern einigte man sich darauf, dass Gewerkschaftsvertreter an der Ausarbeitung des Arbeitsgesetzes mitwirken dürfen. Die Proteste sollen dafür vorerst ausgesetzt werden.

Das fundamentale Problem ist damit jedoch nicht aus der Welt geschafft. Die Regierung will mit dem neuen Arbeitsgesetz unter anderem die rechtliche Grundlage für die Abschaffung überflüssiger Arbeitsplätze schaffen. Das Gesetz sei „dem Standard der EU angepasst“, argumentierte Premier Zoran Djindjić. Im Wirtschaftsministerium hört man, dass Massenentlassungen unerlässlich seien. Die riesige Anzahl wirtschaftlich unrentabler Arbeitsplätze in bankrotten serbischen Unternehmen würde ausländische Investoren abschrecken und die Privatisierung bremsen.

In Serbien tickt eine soziale Zeitbombe. Es gibt mindestens 850.000 Arbeitslose, rund eine halbe Million Arbeitnehmer befinden sich in „Zwangsurlaub“. Die Leiterin des Lehrstuhls für soziale Politik, Drenka Vuković, spricht von „zwei Dritteln der Bevölkerung, die unter der Armutsgrenze leben“. Der Lebensstandard sei nach der Wende 2000 um rund 35 Prozent gesunken.

Die Hoffnungen, nach dem Machtwechsel würden in Serbien Milch und Honig fließen, wurden enttäuscht. Zwar mangelt es in den Geschäften an nichts, doch kaum jemand kann sich mehr als die Grundnahrungsmittel leisten.

Zwar machen laut Umfragen die meisten Menschen immer noch das Regime Milošević für ihre Misere verantwortlich, doch immer mehr fühlen sich als Opfer der Reformen. Djindjić weiß, dass er trotz allem diesen Kurs fortsetzen und marktwirtschaftliche Verhältnisse nach dem Diktat potenzieller Auslandinvestoren schaffen muss. Soziale Unruhen wird er nur mit finanzieller Unterstützung der Staatengemeinschaft meistern können und dabei eine politische Destabilisierung wohl in Kauf nehmen müssen. ANDREJ IVANJI