Vom Stuhl gerissen

■ Bremer Klavierwettbewerb, der achte: Diesmal mit Uraufführung als Pflichtstück

„So stelle ich mir die Musikstadt Bremen vor“, lobte Ernst Folz vom Landesmusikrat nach dem Preisträgerkonzert des achten Bremer Klavierwettbewerbes, der seit 1987 alle zwei Jahre mit immer größerem Rennomme vom Landesmusikrat, der Sparkasse in Bremen, Radio Bremen und der Glocke durchgeführt wird. Interpretationswettbewerbe: eine Medaille mit zwei Seiten. Einerseits wird wie im Sport das „immer schneller, immer jünger“ jenseits aller Musikalität gefördert, verbunden mit den Ungerechtigkeiten.

Denn derartige Hochleistungen sind einerseits immer auch mit der Tagesform verbunden und endgültigen Urteile müssen zu großen Teilen subjektiv bleiben, denn Interpretation ist nicht messbar. Trotzdem bejahen die meisten jungen Interpreten das System: Man lernt sich kennen, man lernt Agenturen kennen, man lernt, ein Riesenpensum durchzuhalten, man lernt auftreten ...

So sieht es auch der diesjährige Preisträger Eugene Mursky aus Usbekistan, den es schon bei den berühmten Eingangsakkorden von Tschaikowskys brachialem b-Moll-Konzert mit Hilfe vom Philharmonischen Staatsorchester unter der anfeuernden Leitung von Rainer Mühlbbach regelrecht vom Stuhl riss: 15 000 Mark kassierte er dafür. Denys Proshayev aus der Ukraine bekam den zweiten Preis: Mit großer Wärme spielte der 23-jährige Schumanns a-Moll-Konzert. Hinter sich hatten sie vier Durchläufe: zwei komplette Klavierabende und ein Solokonzert. 60 PianistInnen waren gekommen, davon elf aus Deutschland. Wie schon im Vorjahr war mit 24 Spielern der Anteil aus den ehemaligen Sowjetstaaten unverhältnismäßig hoch. Eine interessante Novität zeichnete den diesjährigen Wettbewerb aus. Es wurde ein Kompositionsauftrag vergeben, der Pflichtstück im dritten Durchgang war: an Charlotte Seither. Das größte Problem ist hier sicher, dass eine sozusagen normale ProfessorInnenriege kaum in der Lage ist, mangels Vergleichsmöglichkeiten die Wiedergabe zeitgenössischer Musik zu beurteilen.

Das kaum kleinere ist, dass auch diese ganz jungen HochleistungspianistInnen kaum Erfahrung mit dieser Literatur haben. So verzichtete Charlotte Seither in „Echoes, edges“ zum Beispiel auf Präparierung des Flügels, schrieb erkennbare, fast romantische Gesten und klangfarblich reizvolle Atmosphären: „Ich musste mir schon die Frage stellen, wo können die noch zu Hause sein und wo verbiege auch ich mich nicht“, sagt die Komponistin. Die öffentliche Uraufführung spielte im Preisträgerkonzert Stanislav Unland-Boianow, der auch die Förderprämie für die Interpretation erhielt. Riesenjubel im großen Saal der Glocke. usl.