Tod im Tunnel

von KATHARINA KOUFEN

Ein geplatzter Reifen war es wohl, der das Inferno im Gotthardtunnel ausgelöst hat. Einer der Unfallfahrer, der sich zu Fuß ins Freie retten konnte, berichtete, es sei ihm ein anderer Laster im Zickzack entgegengekommen. Er habe noch versucht, mit seinem Lkw nach links auszuweichen, aber der Zusammenstoß sei nicht zu vermeiden gewesen.

Nach Polizieiangaben befanden sich zum Zeitpunkt des Unfalls vorgestern Morgen kurz nach zehn Uhr etwa 200 Fahrzeuge im Tunnel. Viele Fahrer wendeten in Panik, Busse standen quer. Andere flohen zu Fuß nach draußen oder in den Rettungstunnel, der parallel zur Fahrbahn verläuft.

Wie viele Menschen sich nicht retten konnten, ist noch unklar. Bis gestern Nachmittag hatten die Einsatzkräfte die Leichen von neun Männern und einer Frau entdeckt. Sechs der Toten hätten auf der Fahrbahn gelegen, die anderen vier in ihren Autos, sagte der Tessiner Polizeichef Romano Piazzini. Sie seien erstickt. Offizielle Schätzungen gehen von 20 Toten aus, bei der Polizei waren gestern Nachmittag noch 80 Menschen als vermisst gemeldet.

Auch 30 Stunden nach dem Unfall hatten es Feuerwehr und Rettungskräfte noch nicht bis zur Unglücksstelle geschafft. Auf 250 Meter Länge ist der Tunnel eingebrochen. Unter den Trümmern vermutet die Polizei die Wracks von 20 ausgebrannten Autos. Schwelbrände und die Gefahr herabstürzender Deckentrümmer behindern ihren Einsatz. Wegen der Hitze konnten sie sich nur bis auf etwa 200 Meter der Unfallstelle nähern.

Am Tunnelportal des Südausgangs errichtete die Feuerwehr einen Wasservorhang. Dieser soll den zum Teil giftigen Qualm am Heraustreten hindern. Die Bewohner des anliegenden 1.700-Seelen-Dorfes Airolo wurden aufgerufen, Türen und Fenster geschlossen zu halten. Die Feuerwehr rechnet damit, dass es noch Tage dauern wird, bis die Flammen unter Kontrolle sind. Gestern Nachmittag stank es in ganz Airolo nach verbranntem Gummi; einer der verunglückten Lastwagen hatte Autoreifen geladen.

Die kürzeste Strecke von Deutschland nach Italien dürfte nun für Wochen, wenn nicht für Monate unpassierbar sein. Schon gestern regierte auf den Schweizer Autobahnen das Chaos. Etwa 18.000 Fahrzeuge, darunter 4.000 Lkw, passieren jeden Tag den Gotthardtunnel. Der Pkw-Verkehr wird vorerst über den Gotthard-Pass umgeleitet, der Lkw-Verkehr über die San-Bernardino-Route durch Graubünden. Dort ereignete sich gestern ein weiterer Unfall, bei dem ein Busfahrer ums Leben kam. Daraufhin wurde auch die San-Bernardino-Strecke teilweise gesperrt. Für Lkw wurde gestern außerdem der Grenzübergang Chiasso von Italien in die Schweiz geschlossen.

Zumindest ein Unternehmen zieht aus dem Chaos Profit: Die Schweizer Bundesbahnen verdoppelten gestern kurzfristig ihre Huckepack-Kapazität für Lastwagen. Weniger glücklich ist die Lage der Versicherungen. Ihre Brandschutzexperten fordern, „wirksamere Löschanlagen“ einzubauen, die über die herkömmliche Sprinklertechnik hinausgehen.

Die Europäische Kommission appellierte gestern an ihre Mitgliedsstaaten, endlich ihre Initiativen zur Verbesserung der Verkehrssicherheit zu verwirklichen. Dazu gehöre die stärkere Verlagerung des Verkehrs auf die Schiene und die Begrenzung der Fahrzeiten von Lkw-Fahrern. Einen geplatzten Reifen könnte allerdings auch eine solche Initiative nicht verhindern.