Die Grabräuber von Ground Zero

aus New York THOMAS GIRST

Auf dem Trümmerfeld werden Heldengeschichten geschrieben. Allein das Ausmaß der Katastrophe vom 11. September verleiht Feuerwehrleuten, Polizisten, Soldaten und Helfern heroische Züge. Sie verkörpern die Tugenden Mut, Ausdauer und Selbstlosigkeit, die die nervöse New Yorker Bevölkerung jetzt inspirieren wie beruhigen.

Kaum die Rede ist dagegen von Plünderungen. Dabei ist allgemein bekannt, dass inmitten von Schutt und Asche des WTC mindestens 500 Millionen Dollar allein an Gold und Silber vergraben sind. Fragt man Augenzeugen, wird schnell klar, dass es in New York keineswegs nur Helden gibt: Plünderer und Souvenirjäger greifen ordentlich zu.

Diebe unter den Helden?

Doch solche Geschichten von Ground Zero tauchen in den Schlagzeilen kaum auf. Meldungen von Diebstählen lassen sich noch an einer Hand abzählen. Erst am 21. September gab die New York Times bekannt, dass zahlreiche Luxusläden der größtenteils unversehrt gebliebenen Einkaufspassage direkt unterhalb des WTC ausgeraubt worden seien. Bereits zwei Tage nach der Katastrophe waren verdächtige Personen verhaftet worden. Soldaten der National Guard untersuchen noch, ob die Diebe nicht vielmehr unter den Rettungsarbeitern zu finden sind.

Der Fernsehsender ABC berichtete Anfang Oktober, dass Agenten der US-Regierung die Bergungsarbeiter mit Ferngläsern beobachten ließen. Denn neben Gold finden sich Tresore und Schließfächer in Ground Zero, die geheime Dokumente, Juwelen, Waffen und Drogen enthalten. Der Gebäudekomplex des WTC beherbergte auch das New Yorker Büro des CIA und die Zollbehörde. Deshalb riegelte das FBI nach dem Einsturz bestimmte Abschnitte des Katastrophengebiets ab.

Am 28. September titelte die New York Post in riesigen Lettern „Mafia Loots WTC“. Die Polizei hatte 150 Tonnen Schwermetall auf drei Schrottplätzen entdeckt, die Lastwagen einer der Mafia zugerechneten Baufirma auf ihrem Weg von Ground Zero umgeleitet hatten. Eigentlich sollten sie zur stillgelegten Müllhalde Fresh Kills fahren. Dort findet die größte Rekonstruktion eines Tatorts in der amerikanischen Geschichte statt: Jeglicher Schutt von Ground Zero gilt als potenzielles Beweismaterial, wird hier sortiert und auf riesigen Fließbändern nach menschlichen Überresten und Hinweisen durchsucht. Doch die New-York-Post-Titelseite über die Mafia war der einzige Artikel über Plünderungen an derart prominenter Stelle.

Ein etwas anderes Bild ergibt sich indes im Gespräch mit jenen, die autorisierten Zugang zu Ground Zero haben. Beispielsweise beobachteten unmittelbar nach der Katastrophe zahlreiche Augenzeugen, wie im verwüsteten Gebiet um das WTC aus Schaufenstern ausliegende Waren gestohlen wurden. London und Dan, die sich nur unter Nennung ihrer Vornamen äußern wollen, arbeiten seit dem 11. September täglich im Sperrgebiet von Ground Zero. Beide sind in enger Absprache mit den Behörden ehrenamtlich für „wtcgroundzerorelief.org“ tätig, eine Organisation, die von Schuheinlagen bis zu Schokoriegeln alles in ein Sammellager schafft, was die Retter benötigen.

Auf die Frage, ob es Plünderungen gebe, rollt Dan mit den Augen: „Das soll ein Scherz sein, oder? Natürlich gibt es die, massenhaft.“ London wird konkreter: „In den ersten Tagen wurde ein Polizist mit ein paar hundert Uhren im Rucksack erwischt. Rolex etc. Allesamt aus dem Luxusladen Tourneau in der Nähe des WTC.“

Auch das Millennium Hotel befindet sich innerhalb des Ground Zero. Hier flüchteten hunderte aus ihren Zimmern. „Im elften Stock befinden sich die Kameras, die die Bergungsarbeiten filmen. Wenn man den entsprechenden Pass hat, kommt man in das Hotel. Als ich da herumlief, sah ich in einem Zimmer mehrere Stapel von Kreditkarten, die wohl jemand aus dem ganzen Hotel hierher geschafft hatte. Die Polizei war schon da.“

Zwei mit Kleidung, Schuhen und Nahrungsmitteln gefüllte Räume der Heilsarmee seien ebenfalls leer geräumt worden. „Ähnliches ist uns in unserem Lagerhaus passiert. Eine Frau kam vorbei, die sich als Special Crime Scene Investigator ausgab und eine Liste von angeforderten Materialien überreichte. Keiner von uns war da, und ein nichts ahnender Mitarbeiter ließ sie mit Dutzenden von Kisten ziehen.“

Den Plünderern hilft, dass Ground Zero unübersichtlich ist: Erst seit kurzem gibt es Zugangspässe mit Lichtbild, und bei der Vielfalt der dort tätigen Organisationen und Behörden sind Dokumente leicht zu fälschen. Bis heute werden nur wegfahrende Kraftwagen sporadisch gefilzt, Einzelpersonen dürfen die Absperrungen dagegen unbehelligt passieren. Entsprechend schätzt London das Ausmaß der Plünderungen ein: „Die ganze Zeit wird irgendwas geklaut. Menschen sind auch nur Menschen.“

Die Souvenirjäger

Neben den Plünderern gibt es auch die Souvenirjäger. Viele stecken sich kleine Trümmerteile in die Tasche. Nur als ein Mitarbeiter der Heilsarmee ein großes Stück verbogenen Metalls aus Ground Zero schmuggeln wollte, schritt das FBI ein.

London hat keinerlei Verständnis für jene, die Wertgegenstände wie Uhren oder Schmuck unmittelbar aus dem Schutt entwenden. „Das könnte etwas sein, womit sich ein Toter identifizieren ließe, die einzige Erinnerung vom Tag der Katastrophe, der einzige Ring, der den Angehörigen vom Verstorbenen bliebe.“