Was ist echte Weinqualität

Der britische Weinkritiker Stuart Pigott auf der leidenschaftlichen Suche nach einer Antwort

Es war bei einer kleinen Weinprobe im Umweltbundesamt. Zwei Winzerinnen tuschelten leise über IHN. Am Nachmittag, sagt die eine, habe sie IHN bei der großen Degustation beobachtet. Ja, ER habe tatsächlich zwei ihrer Weine probiert. „Und, was hat er gesagt?“, fragt die andere gespannt. Er habe ihr nur freundlich zugenickt. In seinem Gesicht sei weder Entzücken noch Enttäuschung zu erkennen gewesen. Er sei auch nur eine Minute geblieben und dann weiter geschlendert. Die andere Winzerin ist enttäuscht, denn bei ihrem Stand habe ER leider nicht probiert.

Das unfreiwillig mitgelauschte Gespräch offenbart vor allem eines: Die beiden Winzerinnen sind von IHM fasziniert. Das liegt sicher nicht nur an den Rüschenhemden, die er bisweilen trägt, oder an seiner Tigerhose. Die Begeisterung für den englischen Weinkritiker und -publizisten Stuart Pigott hat eine andere Ursache. Die beiden Frauen müssen seine Bücher und Kolumnen gelesen haben! Sie sind hingerissen von der ebenso ungewöhnlichen wie leidenschaftlichen Schreibe des Briten.

Wer Pigotts Bücher liest, greift sich entweder an den Kopf oder ist begeistert. Manche oszillieren zwischen beidem, wieder andere rennen zum Amtsrichter und wedeln mit einstweiligen Verfügungen. Niemanden lassen diese Bücher kalt. Pigott gelingt es, wie derzeit keinem anderen Autor, die Magie des Weines in die Köpfe seiner Leser zu transportieren. Man hat beim Lesen zuweilen das Gefühl, der nächste G-8-Gipfel sei im Vergleich zur Bedeutung dieser oder jener Riesling-Spätlese ein doch recht belangloses Ereignis. Pigott schreibt über Wein als ginge es um Leben und Tod.

Jetzt bekommen unsere beiden Winzerinnen neuen Stoff. Pigotts dritter großer Band über die deutschen Weine ist soeben erschienen. Der Titel „Die großen Weißweine Deutschlands“ ist eher unglücklich, denn der Autor hat diesmal nicht die Absicht, einen für ihn gültigen Überblick über die deutsche Spitze zu geben, viele seiner Lieblinge fehlen. Der Untertitel „Meine Weinheimat“ ist treffender. Der Wahlberliner analysiert den Zustand des deutschen Rebhügels im Jahre 2001 – unmittelbar vor der erwarteten Zulassung der künstlichen Mostkonzentration (chemisch-physikalische Verdichtung der Weine durch Vakuumverdampfung, Umkehrosmose oder Kryoextraktion). Pigott treibt die daraus entstehenden Alternativen für den Wein auf die Spitze: Hier der finessenreiche und authentische Terroirwein, dessen unverfälschter Geschmack und dessen Ausstrahlung wie ein Personalausweis über Herkunft, Lage, Klima und Jahrgang Zeugnis ablegen. Dort die künstlich aufgeblasenen Wonneproppen aus der Maschine, die „von geradezu pornografischer Offensichtlichkeit und donnernder Wucht geprägt sind“. Und die in kleinen Jahrgängen künstlich vergrößert werden.

Was ist echte Qualität? Das Buch folgt der Choreografie seiner Vorgänger. Der Leser begleitet den Autor bei seinen Gesprächen und Degustationen mit den Weinmachern. Wir sitzen mit am Katzentisch und lauschen, was Ernie Loosen, Jay Jay Prüm, Heinrich Catoir und andere Winzergrößen zu sagen haben. Natürlich tauchen auch wieder neue, in der Weinszene noch unbekannte Namen auf. Dafür ist Pigott immer gut: Er entdeckt ein neues Talent und behauptet stur, dass seine Weine gut sind, sehr gut sogar. Bei anderen hoch gelobten Stars der Zunft verweigert er dagegen genauso stur seine Gunst. Seine Stilistik ist die Couch. Pigott wühlt in seiner Gefühlswelt, assoziiert mutig und wild, greift zu großen Worten und lässt den Leser Anteil haben. Hiebe und Streicheleinheiten für den Winzer wechseln, wir sind Zeuge bei seinem inneren Kampf um eine gerechte Beurteilung.

„Bestürzende Leidenschaft“ (Siebeck) auch diesmal, und vor allem ansteckende Leidenschaft. Pigott zeigt die deutsche Weinkultur zwischen Hingabe und Habgier, zwischen Authentizität und Coca-Cola-Mentalität, zwischen groß gewachsenen und groß gemachten Weinen. Seine Weinheimat ist in Aufruhr. Im Kampf um die Definitionsmacht von Qualität hat ER einen wichtigen Pflock eingeschlagen. Das wird nicht nur unseren beiden Winzerinnen gefallen. MANFRED KRIENER

Stuart Pigott: „Die großen Weißweine Deutschlands“. Hallwag 2001, 48,70 Mark