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: Es gibt noch gefährlichere Biowaffen als Milzbrand

Pocken

Es klingt angesichts der täglich neuen Fälle in den USA makaber, aber die Milzbrandbriefe sind eine vergleichsweise harmlose Form des Biowaffenterrors. Schlimmer wären beispielsweise Attacken mit Pockenviren. Die gelten zwar seit 1980 als ausgerottet und existieren offiziell nur noch in zwei Hochsicherheitslabors auf der Welt: in den „Centers for Disease Control“ in Atlanta und im russischen Forschungszentrum für Virologie und Biotechnologie in Nowosibirsk.

Gerade deswegen (und unter dem Eindruck des Milzbrandterrors) scheinen jedoch Bedrohungsszenarios mit Pockenviren gar nicht so abwegig: Zum einen wird seit 1980 nicht mehr gegen die Pocken geimpft, was zur Folge hatte, das seitdem kein Impfstoff mehr produziert wurde. Zum anderen nährt gerade die Existenz der Pockenrestbestände in den beiden Forschungsstätten Zweifel, ob es nicht auch anderswo auf der Welt noch Pockenviren gibt. Eigentlich war die Vernichtung der letzten Stämme schon zum 30. Juni 1999 geplant. Das aber wurde noch einmal um drei Jahre verschoben mit der Begründung, es bestehe noch erhöhter Forschungsbedarf.

Und so gibt es Gerüchte, dass Angehörige des russischen Forschungszentrums Handel mit Biomaterial getrieben hätten (natürlich fällt da auch der Name Bin Laden); und es gibt Spekulationen, dass die Sowjetunion trotz gegenteiliger Abmachungen in den 70ern und 80ern intensivst an Biowaffen mit Pockenviren gearbeitet habe. Der 1992 in die USA übergelaufene russische Wissenschaftler Ken Alibek, der für die Entwicklung biologischer Waffen zuständig war, erzählt gern, dass man Pockenviren in der Sowjetunion tonnenweise hergestellt und auch in Sprengköpfen von Raketen eingebracht habe. Angenommen, diese „Tonnen“ wurden tatsächlich produziert, so ist ungewiss, wo sie abgeblieben sind. Da tauchen die üblichen Verdächtigen auf: Libyen, Nordkorea, Irak, diverse Nachfolgestaaten der Sowjetunion.

Ein Horrorszenario sähe wie folgt aus: Ein Selbstmordattentäter infiziert sich mit Pocken, fliegt ein paar Tage durch die Welt, tummelt sich in großen Menschenmengen und infiziert so Tausende und die wiederum zahlreiche andere Menschen. Anders als Milzbrand sind Pockenviren umweltstabil, hochkontagiös und werden per Tröpfcheninfektion von Mensch zu Mensch übertragen.

Beim Menschen gibt es zwei Pockenerkrankungen: Variola major, hervorgerufen durch den Variolavirus, und Variola minor, hervorgerufen durch den Alastrimvirus. Erstere hat eine Letalität von 20 bis 50 Prozent, Letztere eine von 1 bis 5 Prozent. Eintrittspforte sind Nase und Mund, von wo der Virus in die Lunge gelangt, in umliegende Lymphknoten eindringt und sich vermehrt. Die Inkubation dauert etwa zehn Tage, die Krankheit beginnt mit hohem Fieber, Übelkeit, Erbrechen, Nasenbluten. Kurz darauf gibt es Hautentzündungen im Gesicht, am Kopf und den Extremitäten und nachfolgend schmerzhafte Pusteln. Beim Abheilen dieser Pusteln setzt Juckreiz ein, und es entstehen Krusten und Schorfen, die schließlich tiefe Narben hinterlassen. Charakteristisch ist der Gestank der Erkrankten, denn durch die Abwehrreaktion des Körpers füllen sich die Pusteln mit Leukozyten und bilden Eiter. Komplikationen sind Erblindung, Taubheit, Lähmungen und Hirnschäden, im schlimmsten Fall der Tod. Eine spezifische Therapie gibt es nicht.

Durch die im 1./2. Lebensjahr und mit einer Wiederholung im 12. Lebensjahr stattfindende Pockenimpfung, einer aktiven Immunisierung gegen die Pocken, die lokal alle Phasen einer Pockenerkrankung durchläuft und die typische Pockennarbe auf dem Oberarm von Geimpften hinterlässt, wurde die Verbeitung des Virus eingeschränkt und bald ganz gestoppt. Die USA waren 1954 pockenfrei, die letzte Pockenepidemie in Deutschland gab es 1957 in Hamburg. 1977 wurde weltweit die letzte Pockenerkrankung in Somalia dokumentiert. 1980 empfahl die WHO, die Pockenschutzimpfung nicht mehr durchzuführen, und hob die Impfpflicht auf.

Seit zwei Dekaden gibt es also keinen Impfschutz mehr, der aber auch bei Geimpften nur 15 bis 20 Jahre anhält. Schätzungen zufolge gibt es weltweit ungefähr noch 50 Millionen Impfdosen, davon 15 Millionen in den USA. Dort prüft man nun, ob diese sich verdünnen lassen – um ausreichend Impfstoff für die Gesamtbevölkerung der USA zu produzieren, braucht es drei Jahre. Immerhin ist es bei korrekter Diagnosestellung drei Tage nach einer Infektion noch möglich, mit einer Impfung den Krankheitsprozess der Pocken zu unterbrechen. Zudem arbeitet man in den USA auch an Virostatika, also an Medikamenten, die die Vermehrung des Pockenvirus im Körper hemmen. GERRIT BARTELS