stefan kuzmany über Charts
: Operation Enduring Metal

Nichts ist mehr so, wie es mal war, nur die Band Anthrax wird sich wohl niemals ändern

Timo kniete vor seinem Plattenschrank, eine Zigarette im Mundwinkel, und stöberte: „Ah, das wird dir sicher gefallen. Gar köstliche Musik.“ Ich hatte Timo schon lange nicht mehr getroffen. Wir waren gemeinsam zur Schule gegangen und hatten uns angefreundet, obwohl Timo, nun ja, seltsame Angewohnheiten hatte. In der ersten Zeit, wir waren 14 Jahre alt, trug er meistens eine braune Lederjacke, auf deren Rückseite er mit einem dicken Edding-Schreiber ein Hakenkreuz mit drei Haken gemalt hatte – „Das Symbol der südafrikanischen Rassisten“, wie er mir stolz erläuterte. Ich trug damals ein Palästinensertuch um den Hals gewickelt. In der Pause verprügelte Timo gerne schwächere Mitschüler, seine Freizeit verbrachte er mit Telefonterror. Die Telefonnummer eines verhassten Mathematiklehrers wusste er auswendig und wählte sie zu jeder Tages- und Nachtzeit, völlig spontan: „Ich muss mal kurz telefonieren“, sagte er dann und verschwand, um nach wenigen Minuten mit einem zufriedenen, bösen Grinsen wieder aufzutauchen. Ein italienisches Restaurant am Ort nervte Timo wochenlang mit Tischreservierungen und dem ausdrücklichen Wunsch, nur von arischen Kellnern bedient zu werden. War in der Lokalzeitung in Kurzmeldungen von „unbekannten Tätern“ die Rede, die Blumenbeete verwüstet und Zäune demoliert hatten: gemeint war Timo. Alle Versuche, mäßigenden Einfluss auf ihn auszuüben, scheiterten kläglich. Das seien doch alles nur harmlose Scherze. Und anzeigen wollte ich ihn nicht, das wäre Verrat gewesen. Wir saßen nachmittags nach der Schule in seinem Zimmer, nippten an einer illegal beschafften Flasche „Jack Daniels“-Whisky und hörten Heavy-Metal-Musik der Gruppe Anthrax: Welcome to your nightmare / You just can’t walk away / It’s time for you, to choose, your fate / You just can’t let it lay / Welcome to your nightmare / Your whole life’s on the way / Today

Ich wollte Timo die Freundschaft nicht aufkündigen, denn er hatte auch sehr liebenswerte Seiten. Wenn er sich nicht in einer seiner agressiven Phasen befand, war er ein sehr guter Zuhörer und Ratgeber. Er schrieb Kurzgeschichten, lange bevor ich auf die Idee kam, zu schreiben. Er spielte Gitarre. Und es gab einen Grund für sein menschenfeindliches Verhalten: sein Vater. Der war glühender Anhänger des obskuren „Vereins zur Gotterkenntnis Ludendorff e. V.“, einer durchgeknallten germanengläubigen Vereinigung mit rechtsradikalen Kontakten. Timo musste an Sonnwendfeiern teilnehmen und an Sommercamps, in denen die Kinder frühmorgens mit deutschem Liedgut geweckt wurden. Kleiderordnung: deutsche Tracht. Manche kamen gleich in der Uniform der Wiking-Jugend ins Jugendlager. Timo hasste diesen Verein, aber er fand lange keinen Weg, sich davon zu befreien, und so suchte sich sein Hass eine andere Bahn und fand sie im Terror.

Ich hoffte, das würde sich irgendwann legen, und tatsächlich: Timo hörte auf. Sagte er zumindest. Wir waren ja auch schon fast volljährig, vielleicht hatte er die Dummheit seiner Taten eingesehen. Dachte ich. Ein Jahr nach dem Abitur trafen wir uns wieder, auf einem sehr früh angesetzten Abiturtreffen. Als Timo sich weit nach Mitternacht vom Tisch erhob, um „mal kurz telefonieren zu gehen“, wusste ich, dass ich mich getäuscht hatte.

Letzte Woche wollte ich ihn wiedersehen. Timo war inzwischen auch nach Berlin gezogen, und ich wollte wissen, wie es um ihn steht: Nichts ist mehr so, wie es war, heißt es doch zurzeit immer – vielleicht hatte sich auch Timo geändert. Oder war er inzwischen zum Trittbrettfahrer geworden? Das würde zu ihm passen, dachte ich mir: Briefe mit weißem Pulver verschicken, wahrscheinlich an den alten Mathelehrer. Diesmal würde ich ihn anzeigen. Er war alt genug.

Aus seiner altersschwachen Stereoanlage dröhnte Anthrax. Er zeigte mir die alten Plattencover: Das Album „Spreading the Disease“ von 1985 mit einem sich in Krämpfen windenden Mann vorne drauf, der von einer Person im ABC-Schutzanzug mit einer Art Geigerzähler untersucht wird. Wir lachten über die scherzhafte Ankündigung der Band, sich künftig „Basket full of Puppies“ zu nennen, „Korb voller Welpen“, weil das harmloser klinge. Wir amüsierten uns über die naive Zeichnung des Drummers Charlie Benante auf der Plattenhülle, mit Verweisen auf die befreundeten Bands „Nuclear Assault“ und „S. O. D.“, die „Stormtroopers Of Death“. Und über den saublöden Namen der aktuellen Anthrax-Tour: „Operation Enduring Metal“.

„Ach, übrigens, Timo, äh . . . verschickst du jetzt eigentlich Milzbrandbriefe?“ Timo sah mich entgeistert an. Diese Zeiten seien längst vorbei, zum Glück. Mit dem ganzen Mist aus seiner Teenagerzeit habe er nichts mehr zu tun. Und – „Stell dir vor!“ – bei den Berliner Wahlen habe er doch tatsächlich die PDS gewählt. Dann grinste Timo, ganz wie früher. Und stand auf: Er müsse jetzt mal kurz telefonieren.

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