Marionetten im kollektiven Blutrausch

VMartin Kusej inszeniert am Thalia Theater Christopher Marlowes „Edward II.“  ■ Von Annette Stiekele

In diesen Zeiten erfahren wir täglich, wie die Wirklichkeit die konstruierte Wirklichkeit der Medien eingeholt hat. Und wir wissen, dass kein Special Effect in einem Actionstreifen so absurd wäre, dass er nicht doch eines Tages tatsächlich über uns käme. Das weiß auch Martin Kusej. In seiner neuen Inszenierung Edward II. von Christopher Marlowe spielt er mit den Bildern, die wir alle nie vergessen werden, und verschmilzt sie im Ofen des Thalia Theaters mit dem jüngeren Zitatenschatz der Postmoderne. Das Ergebnis könnte man auch Pulp Fiction meets CNN nennen, und es ist ihm glänzend gelungen.

Wie zwei riesige Grabsteine erheben sich zum Beispiel die Basaltblöcke, die Olaf Altmann als enge Wände des Königreiches Edwards auf die Bühne gestellt hat. Dazwischen stehen der König (Werner Wölbern) und sein Günstling Gaveston (Peter Jordan). Unter einem Lichtermeer gestehen sie einander ihre Liebe.

Dazu wehen gespenstische Rauchschleier von der Bühne in die Zuschauerreihen. Was folgt, ist der freigelegte rote Faden des Renaissancestückes. Kusej hat den Edward II., textlich elegant entschlackt und das Personal von rund 40 auf nur noch 13 Personen reduziert. In prachtvollen barocken Kleidern von Heide Kastler bemühen sich der König und sein Gefolge beim Hofzeremoniell, den Schein der Reichsordnung zu wahren. Wölbern spielt als schwacher König seine grüblerische und empfindsame Seite gekonnt aus. Ein liebender Tölpel, der sein Reich mehr und mehr entgleiten lässt – und es stört ihn kaum.

Als er Gaveston aus der Verbannung holt, um mit ihm „zu sterben oder zu leben“, bringt er allerdings die Riege seiner Lords und seine liebesbedürftige Gattin Isabella gegen sich auf. Judith Roßmaier ist eine exaltierte, nymphomanische Königin, die mit wehender Mähne quer über die Bühne rennt und ihr Mieder verliert. Sie will ganz für die Liebe leben, und weil das mit ihrem zum anderen Ufer übergelaufenen Edward nicht mehr geht, streift sie ihr rotes Seidenhöschen erst für Mortimer und zwischendurch sogar für Gaveston ab.

Als der langhaarige Günstling des Königs auch noch mit Ehren und Ämtern überhäuft wird, reicht es dem Adel. Unter der Führung von Mortimer, bei Norman Hacker ein machtbesessener Ehrgeizling, erklären sie dem König den Krieg. Der steht dazu „nackt wie der Hof“ mit dem Geliebten aufrecht im Bett.

Aber nicht mehr lange. Die Lords sind so von dem Glauben an die machiavellistische Tapferkeit, die „virtú“ beseelt, dass sie darüber die Mächte des Schicksals aus dem Blick verlieren. Und das Schicksal schlägt zu – bei Kusej in Gestalt einer schönen, kalten Frau, Susanne Wolff, die die Teufelsfigur Lightborn spielt. Bei Marlowe eine Randerscheinung, hat sie hier gleich mehrere starke Auftritte, schlurft geheimnisvoll in Männerklamotten, ein Bein nachziehend, über die Bühne. Mit einem „Kuss des Todes“ mordet sie schließlich Gaveston.

Er bleibt nicht ihr einziges Opfer. Im Krieg ist der Renaissancehof plötzlich verschwunden. Das Königsdrama wird vollends zur Parodie, zur Pulp Fiction. Dem König bleiben für seine Rache nur eine größere Horde Kriecher. In schwarzen Anzügen hetzen sie kreuz und quer über die Drehbühne, Marionetten im Blutrausch, die Knarre immer im Anschlag, immer auf der Suche nach dem nächsten Opfer. Nur der König wäscht sich seine blutüberströmtem Hände immer noch in Unschuld– in einem Zink-eimer.

Raffiniert spielt Kusej mit der Ästhetik der Gewalt und der sprichwörtlichen „Pornographie der Bilder“. Auch das Morden ist bei ihm elegant anzuschaun, zumal es unterlegt ist von den gewohnt atmosphärisch dichten Klängen des Musikers Bert Wrede. Am Ende liegt der König in Unterhosen auf der mit Eisklumpen bedeckten Bühne. Da ist die Action vorbei, und es herrscht nur noch das Leiden. Und selbst das ist modisch durchgestylt bis ins Detail: Als elegant gekleidete Dandys posieren die Königsmörder ganz in Weiß, die Königin trägt einen eleganten Fuchspelz auf der Schulter.

Vor dieser schönen Szenerie wird aber auch der König selbst dem Teufel nicht entkommen. Kusej vertauscht am Ende die Rollen von Vater und seinem Sohn, dem Thronfolger. Und damit macht er das zugrunde liegende Prinzip noch expliziter deutlich als Marlowe: Wer auch immer den Thron besteigt, das grausame Spiel wird sich wiederholen. Der junge König hat ein Bild von einer Welt, in der Gewalt und Hass regieren. Was kann daraus Gutes entstehen? Wo Gewalt Gegenwalt erzeugt, gibt es am Ende keine Sieger. Das gilt auch für unsere Gegenwart. Out of the Blue and into the Black, singt Neil Young am Ende. Bei Kusej klingt es wie ein Friedensappell, hineingerufen in eine längst verlorene Welt.

Nächste Vorstellungen: 2., 9. November, 20 Uhr, Thalia Theater