In Sonntagskleidern auf die letzte Reise

Vor 60 Jahren begann Deportation von JüdInnen aus Hamburg: ein Spaziergang  ■ Von Elke Spanner

Nach dem Krieg hatte die Hamburger Bevölkerung den Mythos vom „liberalen Faschismus“ in der Hansestadt erschaffen. Die Deportationen von JüdInnen, hieß es, seien „humaner“ gewesen als im übrigen Gebiet des deutschen Reiches. Historische Forschungen belegen hingegen, dass Hamburg bei den Deportationen sogar Vorreiter war.

Die erste offiziell verbürgte Deportation am 25.9.1941 ins Ghetto Litzmann/Lodz kam nicht auf Befehl der NSDAP-Führung, sondern auf ausdrückliche Bitte des Hamburger Gauleiters Karl Kaufmann zustande: Der bat nach Beginn der Bombardements auf die Hansestadt darum, JüdInnen fortzubringen, um Wohnraum für „arische“ Familien zu schaffen. Und schon vor diesem offiziellen Datum, so Michael Grill, wurden bereits 1938 und 1940 JüdInnen zwangsweise aus Hamburg verbracht. Der Mitarbeiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme führte gestern anlässlich des 60. Jahrestages des Beginns der Deportationen zu den Orten, von denen aus Menschen in den Tod geschickt worden waren.

Bei der ersten Deportation am 28. Oktober 1938 wurden rund 1000 polnischstämmige JüdInnen nach Polen gebracht. Am 23. September 1940 dann wurden JüdInnen aus psychiatrischen Anstalten in die „Heil- und Pflegeanstalt“ nach Brandenburg transportiert – und dort umgebracht. Die Ermordung geistig kranker und behinderter Menschen bildete den Auftakt der Massenvernichtung, so Grill. Mit dem in den „Heilanstalten“ ausprobierten Zyklon B wurden später in den Vernichtungslagern mehrere Millionen Menschen vergast.

In Hamburg finden sich die Hauptorte der Deportationen zwischen der Sternschanze, dem Grindelviertel und dem Hauptbahnhof. Hinter dem Hauptbahnhof befand sich im Nationalsozialismus der Hannöversche Bahnhof. Von diesem Umschlagplatz für den Gütertransport starteten in den vierziger Jahren die Züge in Richtung der jüdischen Ghettos Theresienstadt, Lodz, Riga und Minsk. Am 12.2.1943 wurden 24 Menschen gar nicht erst in ein Ghetto, sondern direkt ins Vernichtungslager Auschwitz gebracht.

Insgesamt sind 17 Deportationen aus Hamburg bekannt. 5848 Menschen wurden in Güterwaggons und Viehtransportern fortgebracht, 5296 von ihnen ermordet. Vom damaligen Hannöverschen Bahnhof ist heute nichts mehr zu sehen. Das Gebäude wurde im Krieg von Bomben zerstört, 1966 schließlich abgerissen. Nur eine Gedenktafel am Hauptbahnhof erinnert heute noch an die Menschen, die damals in den Tod geschickt wurden.

Die JüdInnen, die ihren Deportationsbefehl erhalten hatten, mussten sich zunächst an mehreren Orten in der Stadt sammeln. Von der Sternschanze aus wurden Menschen zum Hannöverschen Bahnhof gebracht. Aus dem Jahr 1942 sind zwei Deportationen ins Ghetto Theresienstadt bekannt, für die sich insgesamt 1697 JüdInnen an der „Volksschule von 1884“, der heutigen Schule Altonaer Straße, einfinden mussten. Im Grindelviertel wurden die heutigen „Kammerspiele“, damals das Gemeinschaftshaus der Jüdischen Gemeinde, als Sammlungsort für Deportationen genutzt. Über den heutigen Uni-Campus verlief damals die Beneckestraße mit zahlreichen jüdischen Organisationen, welche die Nazis als Anlaufstelle für Deportationen verwendete.

Die Hauptsammelstelle befand sich jedoch an einem Platz neben der Universität, dem heutigen „Platz der jüdischen Deportierten“. Die dort ansässige „Provinzialloge“ der Freimaurer hatten die Nationalsozialisten gleich nach der Machtübernahme für ihre Zwecke genutzt. Ab 1941 bekamen JüdInnen den Befehl, sich dort für ihre „Evakuierung“ einzufinden. Sie sollten im Osten Aufbauarbeit leis-ten, stand in den Evakuierungsbefehlen, denen Zigtausende Folge zu leisten hatten. Wer sich in der Loge meldete, wurde von einer Liste gestrichen – und war ab dem Moment für das Deutsche Reich nicht mehr existent.

Nur wenige Dinge durften die Menschen mitnehmen, Seife, Brille, „zwei dicke Schlüpfer (einen anziehen)“. Für ihre Wohnungen, in die nach der Deportation „arische“ Familien zogen, mussten sie sogar noch einen Vorschuss für Miete und Gas hinterlassen. Ihr Hab und Gut wurde für wenig Geld unter den „arischen“ Familien verteilt.

Da sie kaum etwas mitnehmen durften, zogen viele JüdInnen zu ihrer Deportation ihre beste oder zumindest sehr warme Kleidung an. Zu Hunderten standen sie damit auf dem Vorplatz der Loge – und waren nicht zu übersehen. „Sehr viele Menschen haben miterlebt, was hier passiert ist“, sagt Grill zur Behauptung vieler Menschen in der Nachkriegszeit, von der Massenvernichtung nichts gewusst zu haben.