Bei Tetzlaffs unterm Sofa

Bücher zum Fernsehen: Georg Seeßlen wirft einen analytischen Blick in das Innerste der deutschen Bildschirmfamilie

Vor einigen Jahren hat er sich mit dem leider vergriffenen Bändchen „VolksTümlichkeit“ schon einmal tief in die Seele des populären TV-Alltags gewagt. Mit „Der Tag, als Mutter Beimer starb“ wendet sich der Film- und Fernsehkritiker Georg Seeßlen nun einem weiteren Ort zu, an dem Fernsehgeschichte auch Mentalitätsgeschichte ist: der Familie.

Sein Kniff ist dabei genauso einfach wie genial. Seeßlen spricht von „der deutschen Fernsehfamilie“ — und meint damit zweierlei: Zum einen all die Beimers, Drombuschs und Hesselbachs aus der Flimmerkiste. Daneben aber gleichzeitig ihre Zuschauer, die ja im realen Leben notwendigerweise selbst Familienmitglieder sind. Die einen, so seine These, sind ohne die anderen längst nicht mehr denkbar. Das eigene, tatsächliche Leben wird immer wieder mit den Fernsehbildern abgeglichen. Der Blick in die Wohnung der Beimers ist für Georg Seeßlen identisch mit dem Blick in die Wohnung der Nachbarn.

Recht brisant wurde es dementsprechend immer dann, wenn sich die vor allem um äußere Ordnung bemühte deutsche Nachkriegsgesellschaft eine Fernsehfamilie mal so ganz und gar nicht zum eigenen Nachbarn wünschte: Die Tetzlaffs aus der WDR-Produktion „Ein Herz und eine Seele“ zum Beispiel. Jene Zwangsgemeinschaft um das cholerische und politisch zutiefst unkorrekte „Ekel Alfred“ avancierte ab 1974 zur Karikatur des traditionellen, christlich-bürgerlichen Familienentwurfs – und brach so mit dem harmonietriefenden Fernsehen der Adenauer-Jahre. „Hier, im tiefsten Kleinbürgertum ging nun wirklich alles schief, was nur schief gehen konnte“, schreibt Seeßlen.

Bereits in den Achtzigerjahren sah das allerdings wieder ganz anders aus. Da wurde der Familienvater im „Forsthaus Falkenau“ einmal mehr zur unfehlbaren Autoritätsperson stilisiert. Da sorgten die ZDF-Serien „Die Wicherts von nebenan“ und „Diese Drombuschs“ für etwas, das der Autor „Die Rückkehr der Mütter“ nennt. 15 Jahre nach Studentenrevolte, sexueller Revolution und Anti-Baby-Pille rückte die Familie zumindest im Fernsehen wieder eng um den heimischen Küchentisch. Und es oblag den Müttern, sowohl die Handlungsstränge als auch die Familie zusammenzuhalten.

Und heute? In den aktuellen Daily-Soaps ist an die Stelle traditioneller Familienstrukturen längst die absolute Individualisierung der Protagonisten getreten. Nirgendwo, so scheint es, ist des Kanzler Schröders „Neue Mitte“ mittiger als im „Marienhof“ oder den Werbeagenturen und Stadtmagazin-Redaktionen aus „Gute Zeiten, Schlechte Zeiten“. Dort, wo es „keine Arbeit mehr gibt, sondern nur noch Karrieren“.

„Mag Hollywood das Multiplex-Kino beherrschen, das Fernsehen ist hemmungslos deutsch“, urteilt Seeßlen. So deutsch wie der Gesangverein der Wicherts, die Pantoffeln von „Babba“ Hesselbach oder die H&M-Röcke im „Marienhof“.

CLEMENS NIEDENTHAL

Georg Seeßlen: „Der Tag, als Mutter Beimer starb – Glück und Elend der deutschen Fernsehfamilie“, Edition Tiamat, 286 Seiten, 36 DM