Nachgeblättert
: Lahme Protestanten

■ Die Reformation ist an fast allem schuld, das Wetter am Rest

Allerorten blecken freche Kürbisköpfe wie zum Hohn der Christenheit ihre kecken Zähne. Binnen weniger Jahre ist das heidnisch-angelsächsische Halloween zum festen Bestandteil postmodern-globalisierter Fun-Kultur avanciert und feiert dreist fröhliche Urständ auch im Land des größten Reformators. Zur Rettung des christlichen Abendlandes sei daher daran erinnert, dass genau heute vor 484 Jahren ein junger, promovierter Mönch mit Namen Martinus Luther 95 Thesen wider den verhassten päpstlichen Ablass-handel in Wittenberg nein, nicht an die Kirchentür genagelt, aber durchaus an verschiedene Dienststellen verschickt hatte.

Dieses Ereignis hatte gravierende Folgen für unsere kleine Weserstadt. Als Friedrich Engels sich während seiner Lehrzeit 1838 bis 1841 in Bremen darüber beklagte, dass die großen kulturellen Ströme an Bremen vorbeiflössen, war ihm nicht deutlich, dass der gewiefte Kuttenträger Luther – Slogan: „Hier stehe ich und kann nicht anders“ – durchaus eine gewisse Schuld daran trug. „Bremen ist nie wieder eine Kulturstadt geworden“, sagt Wilhelm Tacke, allgegenwärtiger Pressesprecher der bremischen Katholiken.

Tatsächlich haben in Bremen zwei Reformationen stattgefunden. Bremen wurde zwischen 1522 und 1532 zunächst lutherisch. Die zweite Bremer Reformation brachte den noch strengeren Calvinisten vorübergehend Oberwasser. Den Bremer Papsttreuen ist das so wenig bekommen wie den 55 holzgeschnitzten Seiten-Altären im Dom. Unter dem Druck der Reformatoren reduzierte sich die Zahl der katholischen Familien reduzierte sich auf acht. Die kostbar gearbeiteten Altäre wurden einfach verheizt. Auf den Bildersturm folgte der reformierte Kreuzsturm, aber all das ist längst Schnee von gestern: „Im jahre 2001 lebt es sich gut als Katholik im evangelischen Bremen“, meint Tacke.

Doch während die Gegenreformation in andern Teilen Mitteleuropas in der Überschwänglichkeit des Barock eine erfolgreiche PR-Aktion zur Wiedergewinnug verirrter Schafe startete und mit üppigen Putten und knallroter Herz-Jesu-Symbolik die katholische Sinnenfreude zelebrierte, obsiegte die Reformation an der Weser und hinterließ auch in der Alltagskultur Brachland. Nicht nur der Karneval verschwand unwiederbringlich. Ende des 18. Jahrhunderts beklagte sich ein englischer Reisender, dass er während der Karwoche in der Öffentlichkeit eines Wirtshauses kein Bier trinken durfte. Der Wirt brachte seinem Gast das Bier daraufhin auf das Zimmer. Was beweist: Auch evangelische Untertanen sind trotz aller Verinnerlichung pragmatisch. Hätte sonst der Protestantismus die Religion des aufstrebenden Kapitalismus und der weltoffenen Bremer Pfeffersäcke weden können?

Moral statt Ablasshandel ja, aber bitte keine, die unnötig den Handel behindert und die Geschäftsmoral unterminiert. Besagter Wirt ging aber noch einen Schritt weiter. Er übersprang die 250 Jahre reformatorischer Strenge, genehmigte auch sich selbst ein zünftiges Glas Bier und nahm sich den Urheber der Reformation unmittelbar zum Vorbild. Denn Luther war, anders als manche seiner Nachfolger, weder den Gaumenfreuden noch auch der Fleischeslust grundsätzlich abgeneigt.

Diffiziler als das Verhältnis von hansischer Kulturarmut, heimlichen Gerstenkaltschalegenusses und erfolgreicher antipapistischer Agitation ist die Bewertung etwaiger Auswirkungen der Reformation auf die sprichwörtliche Lieblichkeit des Bremer Sozialcharakters. „Man darf den Einfluss des Wetters und der Natur nicht unterschätzen,“ sagt Tacke, „ohne die Reformation wären die Bremer zwar noch lange keine rheinischen Frohnaturen, zumindest aber wohl ein biss-chen lockerer.“

So wie die südoldenburgischen SaterländerInnen, immerhin wie die Bremer Stiesel auch südskandinavische Grünkohlfresser. Die diffusen Frontverläufe des Dreißigjährigen Krieges hatten dazu geführt, dass der Landstrich rund um Cloppenburg bis heute mehrheitlich eine dem Vatikan zugeneigte Enklave blieb. Wer an die Superiorität römisch-katholischer Lebensfreude auch in der norddeutschen Tiefebene nicht recht glauben mag, möge doch sie doch selbst in Augenschein nehmen. Am besten gleich morgen. Dann wird nämlich dort gefeiert: Allerheiligen und Allerseelen. Doch dazu mehr in der taz von morgen.

Thomas Gebel