Eine Fatwa gegen das Denken

DAS SCHLAGLOCH von KERSTIN DECKER

Für Schily ist der Hunger in der Welt gewiss eine Attacke gegen die universale Geltung der Menschenrechte

Nietzsche ist tot.Gott

Gott ist wieder da. Alle reden über die Religion. Und die Denker denken wieder. Der Hauptphilosoph des Landes hat bereits das „postsäkulare Zeitalter“ ausgerufen. Die Feuilletons merkten auf und waren, was sie selten sind, beeindruckt. Bloß was ist ein postsäkulares Zeitalter? Wie lebt man „nachweltlich“?

Nietzsche kannte keine Nach-Weltler, nur Hinterweltler. Nach. Hinter. Muss ungefähr dasselbe sein. Christlich gesehen, liegt der Fall ohnehin klar: ein postsäkulares Zeitalter ist natürlich ein himmlisches Zeitalter.

Was ist mit unserem Oberphilosophen passiert?

Vor ein paar Monaten noch klang alles ganz anders. Da war gerade die philosophische Nachhut der Pfähler unterwegs. Pfähler gibt es überall. Pfähler kämpfen immer gegen das Untote. Ein paar Bürgerrechtler erledigen bis ans Ende ihrer Tage die Staatssicherheit und die Kommunisten gleich mit, und auch ein paar tapfere Philosophen sind noch nicht zurück von ihrem letzten Gefecht gegen das Christentum. Sie halten Gott für eine Art Großvampir. Nicht, dass sie Nietzsches Nachricht über den Gesundheitszustand Gottes nicht erreicht hätte. Aber genügt es, wenn einer tot ist?, fragt sich jeder Pfähler. Denn im Grunde ist er ein guter Christ. Er weiß, alles Tote ist auferstehungsfähig.

Um dem von Habermas soeben verkündigten „postsäkularen Zeitalter“ vorzubeugen, schrieb der Berliner Philosoph Herbert Schnädelbach bereits vor Jahresfrist in der Zeit über den „Fluch des Christentums“. Er stellte fest, dass nicht bloß die Untaten einzelner Christen, sondern das verfasste Christentum selbst als Ideologie, Tradition und Institution schwer als Fluch auf unserer Zivilisation laste. Es leide an genau sieben Geburtsfehlern (Erbsündevorstellung, Rechtfertigungslehre als blutiger Rechtshandel, Missionsbefehl, konstitutiver Antijudaismus usf.). Schon anlässlich von Nietzsches Kritik des Christentums hat man bemerkt, dass es als geistige Großtatsache philosophisch längst zu Ende kritisiert war, was soll man da über Schnädelbach sagen?

Auch die Berliner Zeitung ließ noch zu Jahresbeginn ein Pfähler-Rundschreiben drucken. Es beschäftigte sich mit der Vollkommenheit Gottes, der „Figur“ Jesus Christus sowie dem christlichen Liebesgebot und erklärte alle drei, Gott, Christus und Liebesgebot, für kompletten Humbug und intellektuelle Beleidigung. Das hatte schon Nietzsche registriert: Gott ist eine faustgrobe Antwort, eine „Undelikatesse gegen uns Denker“.

Was fällt an diesen Gottesleugnern sofort auf? Zuerst, dass sie keine schulpflichtigen Kinder in Berlin haben. Und wenn doch, dann sind sie jedenfalls nicht mit kleinen Berliner Türkinnen befreundet, bei denen zu Hause der Koran hängt. In einer Plastetüte im Wohnzimmer. Und jeder, der sich der Plastetüte nähert, muss sich vorher Hände und Füße waschen und ein neues Kleid anziehen. Nietzsche und Schnädelbach wissen gar nicht, was für hervorragende gefüllte Weinblätter die Mama der kleinen Türkin macht, mit der unsere Tochter befreundet ist. Und was für Falafel! Es ist einfach unhöflich, beim Falafel-Essen so verstiegene Nachrichten zu verbreiten wie die von der Nichtexistenz Gottes. Keine atheistische Propaganda beim Abendbrot!, haben wir unsere Tochter ermahnt. Und dass sie nie erzählen soll, dass wir nicht an Gott glauben. Oder wenn doch, dann eher wie Nietzsche: Ich bin Mystiker, ich glaube an gar nichts! – Menschen, die nicht an Gott glauben, sind im Weltbild der Falafel backenden türkischen Mama nicht vorgesehen oder nur an einem einzigen Ort: in der Hölle. Solche Mitteilungen verschlechtern immer die gute Nachbarschaft. Gottesleugnerische Artikel in der Zeit schreiben kann jeder; solche Weinblätter machen wie die türkische Mama ist schon schwerer. Man darf den Aufklärern manches vorwerfen, vor allem aber dies: sie besitzen kein Taktgefühl. Das verbindet sie mit den Eiferern des Glaubens. Und die sind ja nicht immer islamisch.

Briefe wie: „Euch Gotteslästerer! Bürgermeisteramt Heilbronn! Wehe Euch, die Strafe Gottes kommt auf Euch alle herab! Das ist sicher!!!“, werden auch bei uns verschickt. Und nur, weil das dortige Stadttheater mal einen Christus auf die Bühne stellte, der über die Anziehungskraft von Männern ungefähr so dachte wie der neue Regierende Bürgermeister von Berlin. Sogar ein radikalislamischer Scheich aus London verhängte schon die Fatwa über den Autor des schwulen Jesus. Man hätte gedacht, der Scheich wäre zufrieden, wenn ein Konkurrenz-Heiland „entehrt“ wird, aber nein: er rief die Fatwa aus, weil Jesus auch im Islam als Prophet gilt, und der Scheich noch nie einen homosexuellen Propheten gesehen hatte. Ist das schon die Internationale der Fanatiker?

Der zweite Fehler der Durchschnitts-Aufklärer besteht natürlich in ihrem Glauben an die Aufklärbarkeit des Menschen. Genauso wie die Universalisten grundsätzlich allergische Reaktionen auf die nicht universalisierbaren Tatbestände des Lebens zeigen. Man erkennt das im Augenblick sehr gut an unserem Innenminister, der in einem früheren Leben mal Anthroposoph gewesen sein soll.

Für Schily ist der Hunger in der Welt gewiss eine besonders hinterhältige Attacke gegen die universale Geltung der Menschenrechte. Die Berufsuniversalisten fordern im Augenblick ein Denkverbot im Namen des Denkens. Unter ihre Fatwa fällt fast alles, von Grönemeyer über Grünbein bis Grass. Wer nicht denkt wie sie, sagen sie – also vor allem formal –, denke feige. Aber welcher Künstler dürfte bei Strafe der Selbstkastration formal denken? Jeder Universalismus ist Begründung aus sich selbst, ein letzter Nachfahr der Gottesbeweise auf säkularer Basis.

Es ist einfach unhöflich, beim Falafel-Essen die Nachricht von der Nichtexistenz Gottes zu verbreiten

Unter all diesen Gesichtspunkten erklären wir den Atheisten, Aufklärer und Universalisten Jürgen Habermas jetzt zum Mann der Stunde. Natürlich auch, weil eine intellektuelle Schily-Fatwa gegen Habermas eher unwahrscheinlich ist. Philosophie ist, wenn man trotzdem denkt. Nicht nur, dass es Habermas in seiner Friedenspreisrede gelang, das, was er immer schon dachte, so zu sagen, als wäre es neu – das ist ein Grundgesetz der Popkultur – nein, der nach eigenem Bekunden „religiös unmusikalische“ Habermas zeigte sich als ein Denker der Religion. Große Philosophen sind immer solche, die über die seltene Gabe verfügen, auch das zu verstehen, was sie eigentlich gar nicht verstehen können.

Am Anfang stand wie bei jedem Aufklärer der Ordnungssinn. Habermas teilte den Grundbeständen des modernen Daseins – Wissenschaft, Kunst, Moral – eigene Wahrheitswerte zu, damit das alles künftig nicht mehr so durcheinander komme, und nannte es „Ausdifferenzierung“. Nur die Religion bekam keinen eigenen Wahrheitsanspruch ab, das widerstrebte dem Aufklärer Habermas nun doch. Wissen, Moral, Ästhetik – wie liederlich klebt das in jeder Religion zusammen. Also erinnerte er sich an Sokrates, den Entbindungskünstler. Religion ist das, was entbunden werden muss! Fast jeden Abend sehen wir jetzt im Fernsehen riesige Versammlungen rhythmisch im Gebet wippender oder am Boden liegender Muslime.

Ziemlich unkommunikative Haltung, aber was für ein Entbindungspotenzial!

Fotohinweis: Kerstin Decker ist Publizistin und seit 1999 „Schlagloch“-Autorin