Bildet Bildungsbanden!

Wissenschaftszentrum fordert eine Qualifizierungsoffensive. In keinem Ballungsraum wird weniger ausgebildet als in Berlin. Regierungen, Unternehmer und Gewerkschaften sollen Fonds auflegen

von RICHARD ROTHER

Berlin hat in den vergangenen Jahren einen Beschäftigungseinbruch erlebt, der bundesweit seinesgleichen sucht. Nur noch jeder Dritte hat einen regulären Job, auch im Dienstleistungssektor ist die Beschäftigung zurückgegangen. Das ist das Ergebnis einer Studie, die das Wissenschaftszentrum Berlin WZB gestern vorstellte (siehe unten). Die Entwicklung sei dramatisch, sagte der Arbeitsmarktforscher Günther Schmid: „Wir brauchen eine Offensive.“

Schmid forderte den kommenden Senat auf, eine Qualifizierungsinitiative zu starten. Denn in Berlin wird weit weniger ausgebildet als im Bundesdurchschnitt. Diese Qualifizierungsinitiative müsse der Kern eines Berlin-Brandenburger Beschäftigungspaktes sein, auf dessen Umsetzung sich Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften verpflichten müssten.

Die Initiative sollte auf einem Drei-Säulen-Modell beruhen, das von den Landesregierungen, den Tarifparteien und den Arbeitsämtern getragen werden soll. Nach Schmids Vorstellungen sollten die Regierungen von Berlin und Brandenburg trotz ihrer finanziellen Notlage einen Fonds auflegen, der Qualifizierungsgutscheine für Beschäftigte vergibt – vorzugsweise an gering Qualifizierte und kleinere sowie mittlere Betriebe. „Die Arbeitslosigkeit ist immer noch ein Hauptproblem gering Qualifizierter“, begründete Schmid seinen Vorschlag. Mit den Gutscheinen sollen Beschäftigte nach dem Prinzip „Weiterbilden und Einstellen“ gefördert werden.

Zweiter im Bunde sollen nach Vorstellung des WZB die Tarifparteien sein. Die Unternehmerverbände und Gewerkschaften sollen in ihren Tarifverträgen einen Fonds für Weiterbildung vereinbaren. Aus diesem Topf, den Beschäftigte und Unternehmer gleichermaßen finanzieren, könnten Beschäftigte für Weiterbildungen von ihrer Arbeit freigestellt werden. In der Metallindustrie in Baden-Württemberg sind ähnliche Vereinbarungen bereits getroffen worden.

Dritte Säule des Schmid-Modells sind die Arbeitsämter. Diese sollen die Initiative durch eine intensive Vermittlung begleiten. Jeder Arbeitslose müsse spätestens nach einem Jahr einen qualifizierenden Arbeitsplatz erhalten, fordert Schmid.

Wirtschaftliche Chancen sehen die WZB-Forscher in der Verbindung zwischen „neuer“ und „alter“ Ökonomie. Beide seien aufeinander angewiesen. Die Deindustrialisierung in Berlin sei zwar dramatisch, so die Forscher. Dennoch zeige der Standortvergleich, dass urbane Wirtschaftsstrukturen durch eine Arbeitsteilung mit ihrem Umland geprägt seien. Berlin und Brandenburg müssten sich daher noch stärker als einen Wirtschaftsraum begreifen.

Wachstumspotenziale könnten sich durch den Ausbau wissenintensiver Diensteistungen erschließen, so die Arbeitsmarktforscher. Der Senat müsse die „Überausstattung“ an Beschäftigten in den Bereichen Wissenschaft und Bildung nicht als finanzielle Belastung, sondern als Chance begreifen. Jede Investition in Wissenschaft und Bildung bringe ein Vielfaches an Beschäftigung. Zukunftsträchtig seien der Gesundheits-, Medien- und Kulturbereich in Verbindung mit der Verkehrs-, Medizin- und Biotechnik.