american pie
: Keine Zaubershow beim großen Jordan-Comeback

Der neue alte Michael

Latrell Sprewell, direkter Gegenspieler von Michael Jordan, hatte die beste Aussicht, als der 38-jährige Rückkehrer 18 Sekunden vor Schluss des Matches gegen die New York Knicks an der Dreipunktlinie in die Höhe stieg und den Basketball mit eleganter Bewegung Richtung Korb schweben ließ. „Ob ich dachte, er würde reingehen?“, meinte der Forward von den Knicks später. „Bei Michael immer.“ Eine Vermutung, die Sprewell mit seinem Coach Jeff van Gundy, den 19.763 Menschen im Madison Square Garden und Fernsehzuschauern in 210 Ländern, in denen am Dienstag das Auftaktmatch der neuen NBA-Saison übertragen wurde, teilte. Doch der Wurf, der den Ausgleich zum 91:91 bedeutet hätte, ging nicht rein, der Ball prallte vom Korbrand ab, Jordans Washington Wizards verloren mit 91:93 und ihr nach 40-monatiger Pause wie ein göttliches Wesen bestaunter Superstar hatte sich als fehlbarer Basketballspieler aus Fleisch und Blut erwiesen.

Dabei begann alles viel versprechend. Schon nach 90 Sekunden flutschte Jordan an Sprewell, einem der besten Verteidiger der Liga, vorbei, als sei dieser aus Luft, und legte den Ball formvollendet in den Korb. Ein Spielzug aus der alten Wunderkiste, die eigentlich schon für immer geschlossen schien. Die ersten kleinen Risse bekam das revitalisierte Denkmal, als Jordan wenig später einen Ball zum Vergnügen der Knicks-Fans glatt am Korb vorbeiwarf und kurz darauf in gänzlich untypischer Manier einen Lay-up vermasselte, nachdem er selbst in alter Bissigkeit einen Pass von Knicks-Spielmacher Mark Jackson aus der Luft geklaubt hatte. Dennoch konnte sich Michael Jordans Bilanz aus dem ersten Viertel sehen lassen: 11 Punkte, 4 Assists, 3 Rebounds, 3 Steals, und was am wichtigsten war, sein Team führte. Bis zu elf Punkte betrug der Vorsprung, der prompt im zweiten Viertel verspielt wurde, als sich der Boss ein Päuschen auf der Bank gönnte. Danach konnte Jordan in einer beidseitig schwachen Partie nicht mehr an seinen furiosen Start anknüpfen, leistete sich in der Schlussphase zwei schwerwiegende Ballverluste, verpasste einen wichtigen Rebound und traf von seinen letzten fünf Würfen nur einen. Die glanzvolle Show, die er sich insgeheim in seinem „Mekka“, wie er den Garden nennt, erhofft hatte, fiel aus, seine angestammte Rolle des Matchwinners übernahm ausgerechnet Bewacher Sprewell, der zehn seiner 28 Punkte im letzten Viertel erzielte.

Nach dem Match schieden sich erwartungsgemäß die Geister bei der Bewertung des so sehnlich erwarteten Auftritts. Spötter sprachen von einer „Antiquitätenshow“, fachkundigere Beobachter sahen die Sache nüchterner. „Er war der dominante Spieler auf dem Platz“, meinte Knicks-Coach Jeff van Gundy, ähnlich äußerte sich sein Wizards-Kollege Doug Collins: „Was hatte Michael? 19 Punkte, 6 Assists, 5 Rebounds, 4 Steals? Zwei Treffer mehr und ihr sagt: Wow, was für ein großes Spiel.“ Auch Latrell Sprewell mochte die Leistung des sechsfachen NBA-Champions trotz dessen schwacher Trefferquote von 33 Prozent (7/21) nicht schmälern. „Er hatte viele freie Würfe, gehen sie rein, macht er ein 30-Punkte-Spiel.“ Auch wenn die Magie vergangener Tage fehlte und auch wenn His Airness heute eindeutig tiefer fliegt als früher, bewies Jordan, dass er ein herausragender Spieler der Liga ist – was vielen Fans und möglicherweise auch ihm selbst jedoch nicht reicht. „Spielt er gut, ist er der alte Michael“, benennt Doug Collins das Dilemma, „wenn nicht, ist er nur der alte Michael.“

Jordan selbst war durchaus enttäuscht. Zwar hat er auch früher keineswegs in jedem Match die Sterne vom Himmel geschossen, auf großen Bühnen wusste er jedoch stets zu brillieren. „Das Spiel ist ein bisschen anders, meine Teamkollegen sind ein bisschen anders, und das Ergebnis ist ein bisschen anders“, fasste er den Auftritt zusammen. Die gerade eingeführte Zulassung der Zonenverteidigung erlaubte es den Knicks, Jordan jederzeit zu doppeln, seine präzisen Pässe aus der Bedrängnis konnten die Mitspieler oft nicht nutzen. Nur Chris Whitney (18 Punkte) und Popeye Jones (13) leisteten nennenswerte Hilfestellung.

„Es ist ein junges Team, wir werden hoffentlich noch besser“, meinte Michael Jordan, wollte aber nicht allzu tief in die Zukunft blicken. „Das Unbekannte ist gefährlich“, ahnt er, „jeder spekuliert, aber keiner weiß was. Ich denke, das ist ein Teil der Herausforderung.“

MATTI LIESKE