Dicker Stoff Erinnerung

Widerstand, Emigration, Heimweh, Tradition, aber auch Vergessen: Unter dem Motto „Filmemacher der Diaspora“ starten die 9. Griechischen Kinotage in Berlin

Ari ist neunzehn, sieht gut aus und pumpt sich mit Drogen voll. „Finde eine Frau und heirate!“ sagen die Älteren. Aber Ari interessiert sich für Männer und findet das geregelte Leben seiner Eltern zum Kotzen. Ari ist ein griechisches Emigrantenkind in Melbourne in Australien. Wie auch die Regisseurin Anna Kokkinos. Ihr Film „Head on“ gehört zu den Schönsten im Programm der 9. Griechischen Kinotage in Berlin.

Unter dem Motto „Filmemacher der Diaspora“ packt das griechisch-deutsche Kulturzentrum „Filia“ Regisseure zusammen, die überwiegend aus den für Griechen traditionellen Auswanderungszielen USA und Australien kommen. Und packt verschiedene Exilantengenerationen zusammen: Kinder der Massenemigration nach Amerika Anfang des 20. Jahrhunderts ebenso wie Flüchtlinge aus der Diktaturzeit Mitte der Sechziger bis Mitte der Siebziger. Anna Kokkinos Film ist dabei einer der wenigen, die „typisch“ griechische Probleme zum Thema haben.

Mit ganz konkreter griechischer Geschichte beschäftigen sich nur zwei Filme: Gregg Tallas in seinem 1953 entstandenen Film „Das barfüßige Bataillon“ , der vom Widerstand im zweiten Weltkrieg gegen das deutsche Besatzungsregime erzählt und Nikos Papatakis „Das Foto“, der sich Ende der Achtziger mit der durch Diktatur hervorgerufenen Emigration und dem Heimweh auseinandersetzt.

Ansonsten bietet die mit Hilfe der Freunde der Deutschen Kinemathek organisierte Reihe eine breite Genreauswahl und zeigt auch Arbeiten von Regisseuren, die man kaum mehr mit ihrer griechischen Herkunft identifiziert. Neben dem Vertreter des „klassischen“ Hollywood, Elia Kazan, laufen im Arsenal auch Filme von John Cassavetes und Gregory Markopoulos.

Eine der berührendsten Produktionen der Griechischen Kinotage ist Angela Melitopoulos’Flüchtlingsgeschichte „Passing Drama“, wobei schon der Titel eine Geschichte erzählt. Das Wort „Drama“ heißt im Griechischen Bühne, ist aber auch der Name einer kleinen Stadt in Nordgriechenland, deren erste Einwohner Flüchtlinge waren. 1,5 Millionen orthodoxe Griechen, die an der Schwarzmeerküste der Türkei angesiedelt waren, wurden in den Zwanzigern nach Griechenland deportiert. Viele der Kinder dieser Flüchtlinge kamen im Zweiten Weltkrieg als Zwangsarbeiter aus den von Bulgarien besetzten Gebieten Nordgriechenlands nach Deutschland. Anhand von Interviews mit Flüchtlingen aus der Umgebung der Stadt Drama und Erinnerungen ihres Vaters an sein Leben als Zwangsarbeiter in Wien zeichnet die Regisseurin verschiedene Erlebnisebenen einer Vergangenheit nach, die in der europäischen Geschichte praktisch vergessen sind.

Melitopoulos geht es dabei weniger um die großen historischen Ereignisse als um das persönliche Vergessen und Erinnern. Wie ein Leitmotiv taucht im Filmverlauf immer wieder ein Webstuhl auf, der einzelne Fäden nach und nach zu einem dicken Stoff zusammenführt . Unterschiedliche Laufgeschwindigkeiten unterstreichen die verschiedenen Zeitebenen, und je weiter die realen Ereignisse zurückliegen, desto stärker werden die Bilder verfremdet. NINO KETSCHAGMADSE

1.-11.11., Kino Arsenal, Potsdamer Straße 2, Infos unter www.filia-ev.de