Das Chamäleon

von TONI KEPPELER

Um den Kandidaten zu sehen, müssen sie sich begießen lassen. Stunde um Stunde, Regenschauer um Regenschauer klatscht auf die 3.000 Menschen nieder, die zur Wahlkampfveranstaltung nach Valle de la Laguna 30 Kilometer südlich von der Hauptstadt Managua gekommen sind.

Im Grunde zeigt der Wahltermin am kommenden Sonntag, wie wenig die politische Klasse Nicaraguas sich um das Volk schert. Denn der Wahlkampf ist ausgerechnet mit dem Ende der Regenzeit zusammengefallen. Und das in einem Land, in dem es gerade eine Halle für Massenveranstaltungen gibt. Ohne Massenveranstaltungen aber ist ein Wahlkampf in Nicaragua kein Wahlkampf, und so warten die Menschen auch im Regen und bei brütender Hitze.

Sie warten nicht einmal gelangweilt. Obwohl das Überbrückungsprogramm auf der Bühne schon zum dritten Mal durchgenudelt wird. Die Schönheitsköniginnen sind von den vielen improvisierten Tanzeinlagen durchgeschwitzt. Auch ohne Alkohol herrscht Volksfest-Stimmung. Wäre man in Bayern, die Leute würden schunkeln.

Für 14 Uhr war Daniel Ortega angekündigt. Als um 18 Uhr die Nacht hereinbricht, weiß noch immer niemand, wo der sandinistische Präsidentschaftskandidat steckt. Er kommt noch einmal zwei Stunden später, und das ist vielleicht ganz gut. Denn so kann er nicht sehen, dass in Valle de la Laguna entlang der Straße nur Hütten aus Bambusstangen, Wellblech und Plastikplanen stehen. Dass der einzige Reichtum der Menschen jede Menge Kinder sind. Und dass die Bäuche dieser Kinder aufgebläht sind von Parasiten. Hätte er das gesehen, dann hätte er vielleicht einen Moment gestutzt, bevor er seinen Zuhörern das Blaue vom Himmel herunter verspricht: Wenn Nicaragua ihn wählt, sagt er, dann wird aus diesem Jammertal „das gelobte Land“.

Voller Lippenstiftabdrücke

Doch die Menge ist begeistert. Es ist nicht so wichtig, was Ortega sagt. Wichtig ist, dass er da ist. Schon als er sich auf der Ladefläche eines weißen Pick up zentimeterweise vor zur Bühne schiebt, kreischen die Menschen wie Teenies bei einem Pop-Konzert. Ortega winkt und schüttelt Hände. Er nimmt Kinder auf den Arm, klopft Männern auf die Schulter, streichelt Greisinnen zärtlich übers Gesicht. Die Lippenstiftabdrücke auf seinen Wangen zeigen, dass er an diesem Tag schon oft geküsst worden ist.

Ortega ist ein routinierter Wahlkämpfer. Es ist sein vierter Präsidentschaftswahlkampf in Folge. 1984, fünf Jahre nach dem gewaltsamen Sturz des blutigen Somoza-Regimes, trat er zum ersten Mal an. Die Revolution erlebte ihre besten Jahre. Die Alphabetisierung schritt voran, Gesundheitsposten wurden gebaut, Land verteilt. Der Krieg gegen die von den USA finanzierten Contra-Rebellen, der 30.000 Tote kosten sollte, hatte eben erst angefangen. Comandante Ortega präsentierte sich im olivgrünen Zwillich als Befreier Nicaraguas und gewann haushoch.

1990, bei der nächsten Wahl, sah er ganz anders aus: Er trat als Cowboy auf in Stiefeln, Jeans und kariertem Hemd. Die ersten grauen Strähnen hatte er schwarz gefärbt, die dicke Brille gegen Kontaktlinsen getauscht. Er ließ sich als „Kampfhahn“ feiern, gegen den die konservative „Henne“ Violeta Chamorro keine Chance habe. Als zupackender Macho versprach er, die Sache zu richten.

Zu richten gab es eine Menge. Trotz vieler Zugeständnisse in Friedensgesprächen hatte es Ortega nicht geschafft, den Contra-Krieg zu beenden. Das Handelsembargo der USA und eigene Misswirtschaft hatten die Läden leergefegt und die Inflationsrate zeitweise auf über 30.000 Prozent getrieben. Nicaragua wollte in dieser Situation keinen Macho, sondern suchte Halt bei einer Mutterfigur. Bei Violeta Chamorro.

1996 versuchte er es wieder. Weil die Verfassung eine direkte Wiederwahl ausschloss, hatte er es nicht noch mal mit Chamorro zu tun, sondern mit dem Rabauken Arnoldo Alemán. Gegen den versuchte es nun Ortega mit der Masche der Doña Violeta. Er trat auf in sauber gebügelten Hosen und im makellosen weißen Hemd, einem Priester-Seminaristen zum Verwechseln ähnlich. Genauso versöhnlerisch war auch sein Ton. Doch die armen Nicaraguaner waren mit Mutter Violeta noch ärmer geworden. Sie wollten keinen Pater als Nachfolger. Dann schon lieber den Rabauken.

Heute stehen Ortegas Chancen so gut wie seit 1984 nicht mehr. In allen Umfragen liegt er ein paar Prozentpunkte vor Enrique Bolaños. Doch das spricht mehr gegen Bolaños als für Ortega. Der 73-jährige farblose Unternehmer diente Alemán als Vizepräsident und stand stets in dessen Schatten. Sein bedeutendster öffentlicher Auftritt war die Einweihung der ersten McDonald’s-Filiale in Managua. Jetzt leidet er darunter, dass selbst seine Parteifreunde offen eingestehen, Alemán sei der korrupteste Präsident weit und breit. Bolaños war Vorsitzender der Antikorruptions-Kommission und hat nichts unternommen.

Doch der alte Mann wehrt sich tapfer. Die Terroranschläge in New York und Washington geben ihm die Gelegenheit, Ortega als Terroristen zu seinen alten revolutionären Freunden Gaddafi und Arafat in die Ecke zu stellen. Die US-Botschaft in Managua sekundiert erfreut. Schon mehrfach betonte der Botschafter, in Washington sehe man „die Möglichkeit eines sandinistischen Wahlsiegs mit großer Sorge“.

Rosarote Grundfarbe

Aber Ortega ist inzwischen 56 Jahre alt und ein gewiefter Taktiker. Er lässt sich nicht mehr in nur eine Rolle drängen. Er spielt gleich alle auf einmal. Wie ein Chamäleon kann er sich jeder Situation anpassen. Auf den Terrorvorwurf von rechts reagiert er als Versöhnler. Seine Frau Rosario Murillo hat ihm dazu ein rosarotes Hemd verpasst. Rosarot ist auch die Grundfarbe seines Wahlkampfs und rosarot ist seine Botschaft: „Die Liebe ist stärker als der Hass.“

Im persönlichen Gespräch ist er freundlich, nachdenklich, fast ein bisschen zurückhaltend. Er überlegt lange, bevor er antwortet. Er gesteht früher begangene Fehler ein, sucht Verständnis: „Wir hatten ein revolutionäres Projekt voller Enthusiasmus. Wir wollten die Nicaraguaner aus der Armut holen, ihnen Arbeit, Bildung und Gesundheit geben. Wir haben das getan zu Lasten von denen, die enteignet wurden. Wir hätten andere politische und wirtschaftliche Kräfte nicht ausschließen dürfen.“

Er vermittelt den Eindruck, als sei ihm das sehr ernst. Als sei er heute wirklich ein anderer als der Ortega der achtziger Jahre. Ein Ortega, der es nicht verwinden kann, selbst mit zum Elend Nicaraguas beigetragen zu haben. Einer, der eine Schuld abzutragen hat mit den Nicaraguanern und der beweisen will: Ich kann es besser als beim ersten Mal.

Auf der Bühne in Valle de la Laguna ist von der Nachdenklichkeit nichts zu spüren. Nichts von eingestandenerSchuld. Da ist Ortega wieder der alte Volksbefreier. Wie war das früher unter der Sandinisten-Regierung?, fragt er. „Wir waren arm, das ist wahr. Aber es gab Arbeit und Essen. Es gab Schulen und Krankenhäuser. Und es gab Würde.“ Und jetzt? „Welche Familie hier kennt drei Mahlzeiten am Tag? – Keine! Wer kann es sich leisten, einen Verwandten ins Krankenhaus zu bringen? – Niemand!“ Er verspricht 950.000 neue Arbeitsplätze, so viele, wie es heute im ganzen Land gibt. Er sagt nicht, woher er sie nehmen will. Seine Helfer verteilen Gutscheine für Lebensmittel und Saatgut. Der Patriarch sorgt sich um seine Kinder.

Nur eine gute halbe Stunde dauert seine Rede. Dann schüttelt er wieder Hände, nimmt Kinder auf den Arm, klopft Männern auf die Schulter. Als er sich schon zurückziehen will, stürzt eine junge Frau auf die Bühne. Sie fällt ihm um den Hals und küsst ihn auf den Mund. Stürmisch, lange, tief. Die Menge johlt. Ortega lässt es sich gerne gefallen. Er ist eben auch ein Macho.