Asiens Befreiung

Unter dem Eindruck antiamerikanischer Demonstrationen von Kairo bis Jakarta wird leicht vergessen, wie viel Respekt asiatische Reformer dem Westen zu allen Zeiten entgegenbrachten.

Schon im Jahr 1900 schrieb der geistige Erneuerer Indiens und spätere Mitstreiter Mahatma Gandhis, Rabindranath Tagore: „Die europäische Gesellschaft hat viele edle Personen hervorgebracht. Dort entwickeln sich Literatur, Kunst und Naturwissenschaft täglich weiter; auf Schritt und Tritt ihre Größe selbst beweisend, schreitet diese Gesellschaft voran. Wir können uns nicht einmal vorstellen, dass jemand von außerhalb ihren Wagen wird anhalten können, wenn ihre eigenen Pferde nicht verrückt spielen. Alle jene wohlfeilen Schriftsteller Bengalens, die eine so glorreiche Gesellschaft nicht mit Respekt betrachten, sondern verspotten, verhöhnen nur unbewusst sich selbst.“

Heute ließe sich Ussama Bin Laden auf der geistigen Ebene der damaligen Schriftsteller Bengalens verorten. Tagore aber war nicht nur ein Verehrer des Westens, sondern auch ein großer Bewunderer Japans – das von seinen Feinden in Asien stets als „verwestlicht“ beschimpft wurde.

Auch auf Lu Xun, den wichtigsten literarischen Vorbereiter der kommunistischen Revolution in China, machte das japanische Beispiel großen Eindruck. Über seine Studienzeit in Japan schreibt der amerikanische Historiker Jonathan Spence: „1905 schloss sich Lu Xun dem großen Exodus chinesischer Studenten nach Japan an. Die juristischen und medizinischen Fakultäten des Landes, seine Militärakademien, seine wirtschaftswissenschaftlichen und politischen Seminare und Institute flößten den Chinesen in einer Zeit, in der die traditionelle Substanz ihrer Kultur angesichts der überwältigenden konkreten Macht des Westens von Jahr zu Jahr brüchiger zu werden schien, neue Hoffnung ein.“

Japans revolutionärer Stern begann schon mit der Angliederung Koreas im Jahr 1910 zu sinken. Im Jahr 1914 trat das Land an der Seite Großbritanniens in den Ersten Weltkrieg ein. So wurde klar, dass Tokio der Politik der imperialistischen Mächte folgte. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg konnte es wieder eine Vorbildrolle in Asien übernehmen – insbesondere für die wirtschaftliche Modernisierung Südkoreas und Taiwans.

Die übrigen Befreiungsbewegungen Asiens tappten nach dem Zweiten Weltkrieg in die Falle eines antiwestlichen Nationalismus.

Schon 1951 erkannte der japanische Politologe Masao Maruyama, einer der großen liberalen Vordenker Asiens: „Die Verquickung der alten Herrschaftsordnung mit dem Imperialismus auf der einen Seite rief auf der anderen unvermeidlich die Verbindung von Nationalismus und sozialer Revolution hervor. Diese Verbindung ist allen asiatischen Nationalismen mit Ausnahme des japanischen – also Indien, Französisch-Indochina, Malaya, Indonesien, Korea – mehr oder weniger gemein.“

Erst langsam und zu unterschiedlichen Zeitpunkten – in China unter Deng Xiaoping, in Indien erst mit den Wirtschaftsreformen der Neunzigerjahre – legten die nationalistischen Regierungen in Asien ihre Zurückhaltung gegenüber dem Westen wieder ab. Seither schreitet die Modernisierung in der Region im Vergleich mit anderen unterentwickelten Kontinenten schnell voran. GEORG BLUME