Russisch-existentiell

■ „Zwanzig Minuten mit einem Engel“: Ein Film aus Bremen

Sind die Menschen überhaupt zu einer reinen, selbstlos guten Tat fähig? Oder basieren auch Altruismus und Liebe letzlich auf egoistischen Motiven? Diese existentialistische Grundsatzfrage behandelt der junge russisch/bremische Regisseur Radik Golovkov in seinem ersten, in Bremen gedrehten Spielfilm.

Und damit hat er sich gleich einen ganz schönen Brocken ausgesucht. Während die meisten filmischen Erstlingswerke eher technische Fingerübungen oder überladene Visitenkarten für Talentsucher sind, will da offensichtlich einer etwas ihm Wichtiges erzählen.

„Zwanzig Minuten mit einem Engel“ ist die Adaption eines gleichnamigen Theaterstücks des russischen Autoren Alexander Vampilov, dessen Werke zu seinen Lebzeiten (1937 bis 1972) verboten waren. Stück und Film handeln von zwei Dienstreisenden, die in einem Hotelzimmer die Zeit totschlagen, keine Rubel für die nächste Wodkaflasche mehr haben und in Säuferlaune aus dem offenen Fenster schreien, man solle ihnen Geld geben.

Prompt klopft ein junger Mann an die Tür und gibt ihnen ein Bündel mit tausend Rubel, als wäre dies das Selbstverständlichste auf der Welt. Aber statt sich zu freuen, geraten die beiden Männer außer sich. Sie können seine Tat überhaupt nicht einordnen, durch ihn gerät ihr ganzes Weltbild aus den Fugen.

Sie holen ein Ehepaar, einen Musiker und eine Hotelangestellte aus den Nachbarzimmern und auch diese sind völlig ratlos über diesen Menschen, der da etwas ihnen völlig Unverständliches tut. Sie versuchen ihm niedrige Motive anzudichten, fesseln ihn, setzen ihn unter Druck bis er eine Geschichte von eigener Schuld und seinem Versuch der Buße erzählt, die zwar schlüssig ist, aber warum hält der junge Mann (übrigens vom Regisseur selbst gespielt) dann in einigen Einstellungen die Arme so seltsam steif am Körper, dass die Hände wie Flügelspitzen aussehen?

Mit solchen subtilen filmischen Mitteln gelingt es Golovkov, dieses existentialistische Kammerspiel zugleich rätselhaft, stimmig und mit einer ganz eigenen Atmosphäre zu erzählen. Alles scheint in einer seltsam zeitlosen, auf das Wesentliche reduzierten Welt stattzufinden. Die Schwarzweißbilder wirken meist karg, fast roh, aber einige merkwürdige Zwischenschnitte auf Details (wie ein Ei, das in Erde vergraben wird oder eine Frauenhand, die versucht, unter fließendem Wasser einen Ring vom Finger zu ziehen) geben dem Film eine irritierende Schönheit. Während Stück und Schauspieler (von verschiedenen Bremer Theaterensembles) noch am ehesten an die ähnlich kühlen, parabelhaften Werke von Jean Paul Sartre erinneren, schuldet die Filmsprache viel der russischen Filmtradition. Die Kamerafrau Dagmar Jäger hat nicht umsonst beim langjährigen Kameramann von Tarkovskij, Vadim Jussov studiert.

So war dies die Premiere eines Bremer Films, der ganz und gar nicht wie ein Bremer Film aussah. Und beim Sekt danach erzählte man einander plötzlich persönliche Erlebnisse und Erfahrungen, an die man durch den Film erinnert wurde. Dies war wohl der beste Beweis, dass Radik Golovkov mit seinem Film das Wichtigste gelungen ist: Man fragt sich unwillkürlich, wie man selber wohl auf „Zwanzig Minuten mit einem Engel“ reagieren würde. Wilfried Hippen