Eine Nase voll mit Liebe

Wie fühlt man sich, wenn man lauter Funk-, Soul- und Jazzhelden in seinem schmächtigen Finnenkörper vereint? Jimi Tenor fummelte sich im Tränenpalast durch die Stilvielfalt der jüngeren und etwas älteren Musikgeschichte

Der Präservativautomat auf der Herrentoilette im Tränenpalast ist besonders kunstvoll gestaltet. Liebende umarmen sich als eine Art aufwärts strebende Säule, die oberhalb der Köpfe in zarte grüne, gelbe und blaue Nebel zerfällt. Das hat Sex, das ist echt Wiener Jugendstil, das schafft Bezüge auch zu den sechs schnaubenden Herren in weißen Kitteln, die vorne auf der Bühne an ihren Instrumenten fummeln. Denn um Liebe geht es viel, wenn Jimi Tenor an seiner Orgel sitzt und singt. Auch um Liebe auf Abwegen – was sonst mag eine Zeile wie „You freak my nose, honey“ meinen? Doch man selbst steht ein wenig abseits, befühlt mit der Zunge die Zahnreihen von hinten und versteht auf einmal, wie sehr sich Backenzähne von Schneidezähnen unterscheiden. Ach, das Gefühl für den Körper, man lernt es immer bloß inwendig, nie vom anderen.

Vielleicht weiß Jimi Tenor am besten, wie solche Wirren der Physis funktionieren. Er ist der weißeste Schwarze im Popgeschäft, er singt mit der Falsettstimme von Curtis Mayfield, schmachtet im heiseren Tonfall gestandener Soulgrößen und spielt Saxofon, als hätte er Free Jazz bereits im New York der Sixties durchlebt. Wenn er während des Konzerts ständig zwischen den Instrumenten hin- und herspringt, dann zeigt sich darin auch die Vielzahl an Persönlichkeiten, die in seinem schmächtigen Finnenkörper hausen.

Seine fünfköpfige Band kann ihn dabei gut verstehen. Ständig hält sie ihm Lücken frei, in die Tenor improvisierte Melodiesprengsel einfügen kann. Der Rest baut sich aus 15 Jahren Musikbiografie zusammen: Mit Industrial hat der Kassenbrillen-Entertainer irgendwann in den Achtzigern begonnen; mit Techno ist er auf den Tanzflächen angekommen; und seit dem 2000er-Album „Out of Nowhere“ ist sein Hintergrundfunk auch für Leute ein Begriff, die gerne mal bei einem gepflegten Cocktail die Bekanntschaft vor dem Beischlaf inspizieren. Da nützt es auch nichts, dass der nordische Low-Fi-Songwriter verschwommene Dias von ungemütlichen Nachtlandschaften zeigt, ein Casio-Keyboard malträtiert und gegen die allzu gediegene Lounge-Atmosphäre ins Horn bläst. Getanzt wird trotzdem, ganz vorne, von Frauen mit Flohmarktmützen und ihren betrunkenen Begleitern.

Tatsächlich klingt der Tenor-Sound wie aus einem utopischen Niemandsland, auf das sich diverse Zielgruppen einigen können. Gothic-Elektro passt dorthin, und Frank Zappa oder Parliament auch. Die Welt ist ein Sandkasten, in dem sich Tenor an einen der alten Helden heranbaggert, um dann einfach die Songs auszublenden oder abzubrechen, bevor sich irgendein Revival-Effekt einstellt. All das hat Methode: Völlig uneitel spielt er mit Stilen, Verweisen und Zitaten – als Bekenntnis zu einem Fantum, das von unerfüllten Wünschen lebt. Noch gibt es jede Menge Schätze auszugraben, in Secondhand-Plattenkisten oder im eigenen Hirn. Die Übergänge sind da bei Tenor fließend. Vermutlich hat man die spitzen Bläsersätze von „Tesla“ bei Duke Ellington gehört, nicht aber das plötzlich einsetzende Heavy-Metal-Gitarrensolo. Die große Vermischmaschine, die Tenor angeworfen hat, klirrt noch in den Ohren, als die Band nach der Zugabe die Halle längst schon verlassen hat. Man hätte ihn zum Jazzfest einladen müssen. Unbedingt. HARALD FRICKE