Niemals auf die Glasscheibe

■ Was ist Angst, was Furcht? Worin unterscheidet sich das Mammuth von der Spinne? Sind Mütter immer schuld? Fragen einer Tagung am Delmenhorster Hanse-Kolleg

Jeder Mensch fürchtet sich, und die meisten haben auch irgendwann einmal Angst. Bei nicht wenigen Menschen nehmen Ängste derart überhand, dass sie therapeutische Hilfe brauchen. Im Rahmen eines interdisziplinär besetzten Kolloquiums diskutierten WissenschaftslerInnen im Delmenhorster Hanse-Kolleg das Thema Angst aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Der Bremer Hirnphysiologe Gerhardt Roth hatte KollegInnen aus der Verhaltensbiologie und der Neuropharmakologie, aber auch SozialwissenschaftlerInnen und PsychotherapeutInnen eingeladen.

Die Wissenschaftler unterscheiden zunächst Furcht von Angst. Furcht bezieht sich auf konkrete Objekte und ist zum Teil genetisch determiniert. „Wir haben festgestellt, dass kleine Kinder aus unterschiedlichen Kulturen niemals auf Glasplatten krabbeln, die über einem Kliff verlaufen. Wir vermuten daher, dass es eine Art von angeborener Angst vor Schluchten oder ähnlichem gibt“, sagt Hans Markowitsch, physiologischer Psychologe aus Bielefeld.

Andere Formen der Furcht wiederum sind erlernt. „Wenn ein Steinzeitmensch vor einem Mammuth wegläuft, ist diese Furcht auf jeden Fall sinnvoll. Heutzutage muss eben die Furcht vor Steckdosen mühselig gelehrt werden“, ergänzt er.

Der Verhaltensphysiologe Wulf Schiefenhövel erläutert eine andere, verbreitete Angst: „Der ganze Sinnesapparat der Menschen ist für den Tag gemacht. Daher fürchten wir uns vor der Dunkelheit.“

Furcht und Angst seien evolutionsbiologisch positiv und hätten dem Homo sapiens einen Selektionsvorteil verschafft. Dennoch könnten diese Dispositionen sich auch auf falsche Objekte verschieben, etwa als Phobien. „Die Furcht oder Angst vor Spinnen ist dann natürlich nicht mehr funktional“, sagt Hirnforscher Roth.

Eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Angst sowohl bei Affen als auch bei Menschen habe die Mutter. „Wenn sie ihrem Kind nicht das nötige Urvertrauen vermittelt, kann die Angst später überhand nehmen“, erklärt Markowitsch. Hinzu kämen in einzelnen Fällen lebensgeschichtliche Besonderheiten. „Depressionen sind eine Wechselwirkung zwischen Dispositionen und Erlebnissen“, fügt der Psychophysiologe hinzu.

Schwerer taten sich die WisschenschaftlerInnen mit der Zunahme von diffusen Ängsten in modernen Gesellschaften. „Heute schlafen die Babys nicht mehr direkt bei ihren Eltern, sondern kommen früh in eigene Betten. Sie werden auch nicht mehr so lange gestillt wie in traditionalen Gesellschaften“, erläuterte Markowitsch. „Urvertrauen wird aber stark über Körperkontakt hergestellt. Anders als in Europa lässt man in Afrika Babys im Schnitt maximal 30 Sekunden schreien.“

Die Erklärung, warum Angstsyndrome in modernen Gesellschaften eher zu- als abnehmen, konnten die Biologen aber allein nicht leisten. Nach Hirnforscher Roth, der auch promovierter Musikwissenschaftler ist, habe es in früheren Gesellschaften mehr Selbststeuerungsmöglichkeiten gegeben. „Die Unübersichtlichkeit moderner Gesellschaften verhindert die Entwicklung adäquater Strategien, damit umzugehen. Der einzelne reagiert darauf mit Angst“, so Roth.

Die aktuelle Angst nach dem 11. September verhalf dieser Tagung zu ungewohnter Aktualität und Medieninteresse. Auch in Delmenhorst war eine Tendenz innerhalb der Biologie unübersehbar, soziale Phänomene zunehmend physiologisch zu erklären. Neurobiologen hatten bei Versuchstieren die Mandeln entfernt. Die Tiere waren daraufhin furchtfrei. Der Psychoanalytiker Helmut Thomä hingegen stellte sich im Eröffnungsvortrag gegen biologistische Reduktionen der komplexeren, menschlichen Angst. Die WissenschaftlerInnen waren sich aber generell einig: „Angst ist etwas Positives.“ Der Ritter ohne Furcht und Tadel bleibt also weiterhin Utopie.

Thomas Gebel