Im Wechselschritt zur nächsten Wahl

„Es gehört zur demokratischen Klasse, dass man der eigenen Regierung nicht in den Rücken fällt und so tut, als könnte man anders reagieren“

von BETTINA GAUS

Auf den ersten Blick scheint die Bundesregierung derzeit gut dazustehen. Die Umfragewerte für ihre Spitzenpolitiker sind sogar glänzend. Die Unionsparteien machen ihren desolaten Zustand durch den chaotischen Verlauf einer munteren Führungsdiskussion ein weiteres Mal kenntlich. Wenn ausgerechnet die schwächelnde CDU-Vorsitzende Angela Merkel jetzt eine „Bestrafung der SPD“ bei den nächsten Wahlen ankündigt, dann wird sie damit allenfalls einen Heiterkeitserfolg erzielen.

Oder? Der Bundeskanzler wirkt erstaunlich schlecht gelaunt. Statt sich zu freuen und den Erfolg zu genießen, zeigt er Nerven. Und nicht nur er. Ohne erkennbare Not stoßen der Kanzler und seine führenden sozialdemokratischen Mitstreiter derzeit alle möglichen Leute vor den Kopf, darunter vorzugsweise traditionelle Anhänger einer rot-grünen Koalition. Warum machen die das bloß?

Gerhard Schröder kanzelt alle Kritiker des militärischen Vorgehens gegen Afghanistan auf eine Art und Weise ab, die sich nicht einmal Schulkinder ohne Rachegedanken gefallen lassen dürften – ganz gewiss jedenfalls keine gestandenen Gewerkschafter. Der ursprüngliche Entwurf des Sicherheitspakets von Innenminister Otto Schily vereinte Juristenverbände und seine Kabinettskollegin Hertha Däubler-Gmelin in gemeinsamem Entsetzen. Angesichts der ablehnenden Haltung der PDS gegenüber dem Krieg in Afghanistan findet SPD-Generalsekretär Franz Müntefering gar zu einer völlig neuen Definition von Meinungsfreiheit: „Es gehört zur demokratischen Klasse, dass man der eigenen Bundesregierung nicht in den Rücken fällt und so tut, als könnte man anders reagieren.“ Tatsächlich?

Souverän wirkt all das nicht, im Gegenteil. Aber handelt es sich wirklich um dumme Ausrutscher – oder gehören diese Verhaltensweisen zu einer Strategie, die von der Erkenntnis geleitet wird, dass die SPD allen freundlichen Umfragewerten zum Trotz die nächsten Bundestagswahlen noch keineswegs gewonnen hat? Und die deshalb vor allem um eines bemüht ist: rechts, links und notfalls auch oben und unten alle Stimmen zu holen und alle einzubinden, die sich irgendwie gewinnen lassen? Zumindest Gerhard Schröder scheint das jedenfalls in den letzten Wochen zur Maxime seines Handelns gemacht zu haben.

Er hat es schon immer verstanden, präzise auf der Klaviatur der Macht zu spielen. Inzwischen hat er offenbar gelernt, zur eigenen Begleitmusik auch noch zu tanzen: Zwei rechts, eins links, sich nach allen Seiten hin verneigend, gibt er die aparte Rolle eines Regierungschefs, der zur eigenen Politik in Opposition steht.

Als die Firma Siemens dem deutschen Kanzler jetzt in Indien ein Stimmerkennungsgerät vorführte, das sich zur Verbrechensbekämpfung einsetzen lässt, lachte der hinterher mit einem Seitenblick auf Otto Schily: „Ich hoffe, der Innenminister ist nicht auf neue Gedanken gekommen.“ Was für eine hübsche Pirouette mit koketter Verbeugung hin zu den billigen Plätzen! Schröder lässt erkennen, dass auch er es gar nicht gut findet, was sein derzeit wohl wichtigster Minister so treibt. Szenenapplaus.

Keinem anderen Politiker außer vielleicht dem ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker ist es bisher so gut wie Schröder gelungen, durch freundliches Augenzwinkern nach allen Seiten hin Verständnis für (fast) jede politische Ansicht zu signalisieren – und zugleich alle öffentlichen Positionsbestimmungen als Unbotmäßigkeit erscheinen zu lassen, die von der eigenen Linie abweichen. Welcher Linie eigentlich? Unermüdlich betont der Bundeskanzler seine „uneingeschränkte Solidarität“ mit den USA. Zugleich aber macht er im Parlament deutlich, dass sich die Bundeswehr nicht an „militärischen Abenteuern“ beteiligen werde.

Was er unter Abenteuern versteht, ist bisher unklar. Flächenbombardements jedenfalls nicht, wie seine Reaktion auf all diejenigen verrät, die Zweifel an der US-Militärstrategie in Afghanistan erkennen lassen. Ohnehin legt diese Reaktion den Verdacht nahe, der Bundeskanzler glaube inzwischen, auch die Haltung seiner Kritiker unterstehe seiner Richtlinienkompetenz. Das ist allerdings nicht der Fall. Und das Problem für Gerhard Schröder besteht darin, dass derzeit niemand weiß, auf welcher Bühne im nächsten Jahr gespielt werden wird.

Noch stehen Krieg, Terror und die Furcht vor neuen Anschlägen unangefochten im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Um daraus keinen Nutzen ziehen zu können, muss sich ein Regierungschef ganz ungewöhnlich blöd anstellen. Das Gefühl einer nationalen Bedrohung schweißt eine Bevölkerung regelmäßig zusammen und verstärkt den Wunsch nach parteiübergreifender Geschlossenheit – kommt also stets dem jeweiligen Amtsinhaber zugute.

Aber wie lange wird dieses Thema die Schlagzeilen beherrschen? Werden die Bundesbürger auf den sechsten ernst zu nehmenden Milzbrandalarm noch genauso erschrocken reagieren wie auf den ersten? Oder werden sie ihr Augenmerk schon bald wieder auf die Frage richten, die in der Geschichte der Bundesrepublik bislang den Ausgang von fast allen Wahlen bestimmt hat: Wie geht es der Wirtschaft?

Sollte das so sein, dann tanzt Schröder nicht auf einer Bühne, sondern auf dem Hochseil. Es ist nur der allgemeinen Aufgeregtheit über die Weltlage zu verdanken, dass eine Aussage von Wirtschaftsminister Werner Müller kürzlich nicht für größeres Aufsehen gesorgt hat: „Wenn sich diese Regierung im nächsten Herbst zur Wiederwahl stellt, dann wird sie ihr oberstes Ziel – eine durchschnittliche Arbeitslosenzahl von 3,5 Millionen – verfehlt haben“, erklärte der Politiker in einem Interview. Und er fügte hinzu, dass auch die angestrebte Senkung der Lohnnebenkosten auf 40 Prozent „wohl nicht ganz erreicht“ sein werde.

Wenn das alles wäre. Steuermindereinnahmen von mehr als 31 Milliarden Mark für das laufende und für das kommende Jahr werden der Bundesregierung derzeit in Zeitungsberichten vorhergesagt. Im Haushaltsentwurf für das Jahr 2002 klafft angeblich eine Decklungslücke von rund 12 Milliarden Mark. Fast jedes dritte deutsche Unternehmen will als Reaktion auf die Konjunkturflaute im nächsten Jahr Stellen abbauen. Und dann kommt auch noch der Euro, der von vielen Bundesbürgern selbst unter den günstigsten vorstellbaren Umständen misstrauisch entgegengenommen werden wird.

„Wenn sich diese Regierung der Wiederwahl stellt, wird sie ihr oberstes Ziel, eine durchschnittliche Arbeitslosenzahl von 3,5 Millionen, verfehlt haben“

Vielleicht steht die Regierung derzeit doch nicht so gut da. Die Grünen haben es jedenfalls bislang nicht geschafft, ihre beachtlichen Verhandlungserfolge innerhalb der Koalition in messbare Sympathiewerte zu übersetzen. Bundesweiten Umfragen zufolge liegt derzeit sogar die PDS vor ihnen, von der FDP ganz zu schweigen. Sollten die Grünen – was keineswegs auszuschließen ist – unter die Fünfprozenthürde rutschen, dann wird die Mehrheitsbildung für Gerhard Schröder dadurch nicht erleichtert.

Gibt es da nicht noch jemanden, der vor diesem Problem stehen könnte? Ach ja, der Spitzenkandidat der vermeintlich so erfolglosen Union. Am Wochenende hat sich nicht einmal die um Seriosität bemühte „Tagesschau“ entscheiden können, ob Angela Merkel hinsichtlich der nach wie vor offenen Kandidatenfrage denn nun eigentlich gerade ein Machtwort gesprochen hat oder ob sie immer stärker unter Druck gerät. Der Einfachheit halber hat die ARD ihre Nachrichtensendungen mal mit der einen, mal mit der anderen Meldung beginnen lassen. Im Blick auf das Ansehen der CDU-Vorsitzenden spricht das Bände. Für die Ausssichten ihrer Partei bei den kommenden Wahlen besagt es gar nichts.

Die Bevölkerung neigt unabhängig von der jeweiligen individuellen Parteipräferenz dazu, einzelnen Parteien und einzelnen Politikern eine herausgehobene Kompetenz für bestimmte Sachfragen zuzuweisen. Im Bereich der Wirtschaft nimmt der ewige Kronprinz Wolfgang Schäuble nach wie vor die Position des Königs ein. Was heißt hier eigentlich ewiger Kronprinz? Bis heute steht nicht einmal fest, ob der britische Thronfolger Charles die Krone nicht doch eines Tages erringen wird. Hinsichtlich der Person von Wolfgang Schäuble bestehen in diesem Zusammenhang noch erheblich größere Unsicherheiten.

Eines immerhin fällt auf: Alle Kritiker einer – ihrer Ansicht nach verfrühten – Kandidatendiskussion innerhalb der Union haben es sorgfältig vermieden, die fachliche Eignung des ehemaligen CDU-Vorsitzenden in Frage zu stellen. Sie beschränken sich auf Formalitäten wie den bestmöglichen Termin der Debatte. Offensichtlich soll die inhaltliche Kompetenz von Wolfgang Schäuble unter keinen Umständen in Frage gestellt werden. Das dürfte eine kluge Strategie sein – ebenso, wie es vermutlich klug ist, den Hausforderer von Schröder nicht zu bestimmen, bevor feststeht, auf welchem Feld gespielt werden wird.

Ein Wettbüro in Salzburg handelt Schäuble übrigens derzeit mit einer Außenseiterquote von 50 zu 10. Nun haben die Österreicher die Deutschen nie so richtig verstanden, wie nicht zuletzt die wechselvolle Geschichte des Hauses Habsburg zeigt. Aber das gilt eben auch für das komplizierte Verhältnis zwischen Bayern und Preußen. Edmund Stoiber dürfte das wissen. Schließlich ist er ist kein ungebildeter Mann.