Grassierender Vorleseunsinn

Der Schauspieler Josef Bierbichler las im BE aus seinem Buch „Verfluchtes Fleisch“

Das letzte Mal, als ich ihn sah, wog sein Schweigen schwer wie ein Fels. In einem Film von Michael Haneke erdrückte die Sprachlosigkeit von Bierbichler, dem Bauern, den letzten auf seinem Hof, die Zeit selbst. Der Sohn haut ab, der Bauer erschießt seine Kühe. Eine größere Verlassenheit gibt es nicht. Die Bilder trägt man mit sich rum, sie liegen im Suppenteller, wenn der Löffel daran klirrt und man die übrigen Figuren des Films längst vergessen hat.

Diesmal kam Josef Bierbichler ins Berliner Ensemble, um zu lesen. Aus seinem eigenen Buch „Verfluchtes Fleisch“. Aber dass man mit der Sprache und dem Reden vielleicht schon Gemeinschaft mit den Falschen macht, sich einlässt auf die Korruptionsprozesse des Kulturbetriebs, daran denkt er doch. Er erzählt von einem Bauern, der die Warteschlange zu einer Lesung von Oskar Maria Graf anlässlich der Benennung einer Oskar-Maria-Graf-Straße kommentierte: „Da leckt’s mich am Arsch. Das sind jetzt lauter solche, die nicht lesen können.“ „Für mich war nur der einfache Gedanke neu“, fährt Bierbichler fort, „auf den er den grassierenden Vorleseunsinn brachte, der so tut, als lebten wir noch immer in den Zeiten der mündlichen Überlieferung und nicht schon am Ende des Buchdrucks.“

Seit er mit den frühen Filmen von Herbert Achternbusch auf die Leinwand kam, ist es schwer, Bierbichler von seinen Rollen zu trennen. In seinem Buch gibt es einen, Kaspar, der festwächst hinten im Obstgarten wie ein Baum. Bierbichler reist derweil nach Paris und unterhält sich mit Juliette Binoche über die Premiere des „Kirschgartens“. Dafür wird er geliebt: Mitten in der Kulturszene aufzutauchen wie einer, dem der ganz Scheiß nichts anhaben kann.

Dreimal wurde er zum Schauspieler des Jahres gewählt. Und was schlägt er nun vor zur „Rettung des deutschen Theaters“? Das Berliner Theatertreffen mit dem öffentlichen Selbstmord sämtlicher Regisseure des deutschsprachigen Theaters zu beschließen. Nicht so einfach, dem Ruf des wilden Grimms gerecht zu werden. Vorgelesen hat er diese Seite nicht. Dafür einen Abschied an Ulrich Wildgruber. „Du wirst es nicht mehr ausgehalten haben, dass du die Kunst geliebt hast, die anderen aber Ruhm und Geld.“ Er regt sich auf über Schauspieler und ihre Bequemlichkeit. „Die Gagen für die Einschaltquoten sind der Judaslohn für den Verrat an der Kunst.“ Er versucht, sich nicht aufzuregen über die Politik, weil die den Ball längst abgegeben hat an die Banken. Auch nicht über die Banken, weil die konsequent sind im Handel mit der Ware Demokratie.

Nach der Politik kommt die Liebe und die Eifersucht, und davon möchte man gern mehr hören. Eifersucht macht den Schriftsteller Bierbichler produktiver als der Hass auf die „Kulturfresser“. Hier ist die Aufregung erlaubt. Er beschreibt, wie er an seinen Niederlagen arbeitet, Telefonate investiert, bis die Stimmung so richtig unten ist. Die Stunde der apokalyptischen Bilder. Gleich wird er sich hinsetzen und weiterschreiben.

KATRIN BETTINA MÜLLER