Von der Siegessäule zum Mahnmal

Fast alle deutsch-israelischen Jugendprojekte werden derzeit abgesagt. Doch seit gestern ist eine Gruppe jüdischer und arabischer Israelis auf Einladung der „Falken“ in Berlin: Sie eint die Vision des Zusammenlebens in Frieden und Gleichheit – die deutsche Vergangenheit spielt nur am Rande eine Rolle

von PHILIPP GESSLER

Lafez geht Hila an die Gurgel. Die 25-jährige Israelin jauchzt auf und entwindet sich lachend dem Griff des 24-jährigen Arabers mit dem charmanten Lächeln. Aus dem Kassettenrekorder des Busses leiert arabische Popmusik. Der herbstlich bunte Tiergarten zieht an den Fenstern vorbei. Die Fahrt geht zur Siegessäule, die unter dem blauen Himmel strahlt. Alles scheint an diesem Nachmittag Frieden und Freude hier in Berlin. In Israel sind am Vortag zwei Israelis von einem arabischen Selbstmordattentäter bei einer Busfahrt erschossen worden, 40 andere wurden verwundet, manche lebensgefährlich. Warum kann sich die Jüdin Hila sicher sein, dass sie der Muslim Lafez nicht ermorden will, wenn er sie an der Kehle packt?

Weil sie eine gemeinsame Idee verbindet, die sie beide nach Deutschland gebracht hat: Lafez und Hila sind Mitglieder der israelischen Jugendorganisation Noar Oved, deren Name am besten mit „arbeitende und studierende Jugend“ zu übersetzen ist. Seit gestern sind sie mit 14 anderen jungen Israelis im Alter von 18 bis 24 Jahren für zehn Tage auf Einladung der „Sozialistischen Jugend Deutschlands - Die Falken“ in der Hauptstadt. Was in normalen Zeiten nichts Ungewöhnliches mehr wäre, ist heute wieder brisant: Nach den Terroranschlägen vom 11. September in New York und Washington sind bundesweit etwa 90 Prozent der deutsch-israelischen Austauschprogramme verschiedenster Organisationen gestrichen worden, berichtet Sven Frye (25), der die deutsche Teilgruppe leitet. Zu groß ist die Angst auf beiden Seiten: Die Deutschen fürchten die Kämpfe im Nahen Osten, die Israelis fürchten um die Sicherheit ihrer Gruppe in Europa.

Auch die Eltern Hilas hatten Angst, berichtet sie. Nicht zuletzt weil die Reise zunächst nur für arabische junge Israelis geplant war. Obwohl Noar Oved ursprünglich eine zionistische Organisation war, hat sie sich im Laufe der Jahrzehnte auch arabischen Jugendlichen geöffnet. Da die Zusammenarbeit der Volksgruppen im Heiligen Land so schwierig ist, gibt es im sozialistisch-sozialdemokratisch geprägten Verband sowohl jüdische wie arabische Gruppen. Vor allem in den Leitungsgremien aber zählt der ethnisch-religiöse Hintergrund nicht mehr: Araber und Juden arbeiten zusammen. Noar Oved ist Teil der israelischen Friedensbewegung, erklärt Toni (45), der die israelische Gruppe hier in Deutschland führt. Jüdische Teilnehmer mussten mitkommen!

Etwas mühsam schleppt sich der arabische Israeli die vielen Treppenstufen auf die Aufsichtsplattform hinauf. Mosaike an den Wänden zeigen, wie deutsche Recken im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 welsche Weicheier niederstrecken. „Mein Land bekämpft mein Volk“, sagt Toni, „mein Volk bekämpft mein Land. Und ich bin in der Mitte.“ Mit seiner Arbeit versuche er, der jüdischen und arabischen Jugend Wege aufzuzeigen, wie ein Zusammenleben möglich ist – in Frieden und Gleichheit. Noar Oved lud vor wenigen Tagen zum sechsten Jahrestag der Ermordung des israelischen Friedensnobelpreisträgers und Ministerpräsidenten Jitzhak Rabin zu einer Demonstration gegen Gewalt und für den Friedensprozess. Etwa tausend Demonstranten kamen.

Eine von ihnen war Miriam. Die 21-Jährige ist arabischer Herkunft, aber natürlich singt sie wie Lafez mit, wenn jemand die Gitarre auspackt und ein sentimentales Liebeslied des israelischen Liedermachers David Broza erklingt. Dass sie in einer ursprünglich zionistischen Organisation aktiv ist, findet sie nicht seltsam – denn daran glaube man ja „nicht wirklich“. Und zudem hätten sie als Vision viel mehr Gleichheit und Demokratie. Hila sagt, wenn sie beide über die jetzige Lage in Israel sprächen, könnten sie darüber „wie Freunde“ reden. Das scheint schon viel.

Der Bus der Falken fährt von der Siegessäule aus an der Baustelle für das Holocaust-Mahnmal vorbei. Kaum einer achtet darauf, die Diskussion über Israel bindet alle Aufmerksamkeit. Erst für den Abend ist das erste Zusammentreffen mit ihren deutschen Partnern vorgesehen. Wer von ihnen wird noch von der deutsch-fränzösischen Erbfeindschaft sprechen? Und wenn selbst eine deutsch-israelische Freundschaft langsam wächst: Werden Hila und Lafez den Tag erleben, da Juden und Araber im Heiligen Land in Frieden leben?