Traurig-heitere Krimifarce

Gastspiel von „La escala humana – Das menschliche Maß“ im Neuen Cinema  ■ Von Annette Stiekele

Der argentinische Autor Rafael Spregelburd ist sich sicher, wenn er in einem anderen Land leben würde, wäre er kein Theatermacher geworden. Aber in Argentinien ist das ein sehr attraktiver Job. „Das argentinische Theater wird in der spanischsprachigen Welt sehr geschätzt, weil es immer ironisch und politisch inkorrekt ist“, schwärmt Spregelburd. Seit 1992 hat das Nachwuchstalent bereits 14 Stücke geschrieben, die alle in Argentinien uraufgeführt und gespielt und zum Teil preisgekrönt wurden.

Im vergangenen Jahr arbeitete Spregelburd als einer der drei Hausautoren am Schauspielhaus in Hamburg und präsentierte als Ergebnis die heitere Farce Die Appetitlosigkeit. Nun kehrt er mit einem Gastspiel ins Neue Cinema zurück, La escala humana – Das menschliche Maß. Geschrieben hat er das Stück zusammen mit Javier Daulte und Alejandro Tantanjan und im April am Teatro San Martin Buenos Aires herausgebracht. Jetzt tourt er damit durch Spanien und Deutschland. Auf den ersten Blick geht es um eine Mutter von drei Kindern mit Namen Mini, die vom Einkaufen auf dem Markt zurückkehrt und frischweg ihrem Nachwuchs erzählt, dass sie soeben eine Nachbarin erstochen hat.

Daraus entwickelt sich ein absurder Krimi, verquickt mit irrwitzigen Soap-Elementen. Denn die Kinder unternehmen alles, um den Verdacht von der Mutter abzuwenden. Gleichzeitig ist niemand überhaupt wirklich an einer Aufklärung interessiert, schon gar nicht die Polizei. Dazu Spregelburd: „Das ist das Irritierende und Verstörende an diesem Anti-Krimi, und es ist ein Phänomen der argentinischen Wirklichkeit, dass alle etwas sehen, aber keiner sich verantwortlich fühlt.“

Der Inhalt ist für Spregelburd eigentlich zweitrangig. Ihm geht es darum, mit eigenen spielerischen Mitteln eine autonome Wirklichkeit darzustellen. Entscheidend ist die Verfahrensweise, in der immer wieder Erwartungshaltungen durchbrochen werden. Die argentinische Wirklichkeit schwingt dabei unterschwellig immer mit. Zum Beispiel die einer Regierung, deren Ex-Präsident Menem wegen Waffenhandels im Gefängnis sitzt, während die Presse sich doch nur dafür interessiert, dass er jetzt mit einer ehemaligen Miss Universum aus Chile verheiratet ist. „Die jüngere Geschichte Argentiniens ist voll von Vorfällen, die keiner sehen will. Die Schergen der Diktatur sind alle amnestiert worden und wohnen weiter um die Ecke“, meint der Argentinier verbittert.

Die Zusammenarbeit mit den beiden anderen Autoren hat Spregelburd sehr genossen. „Wir kennen uns schon sehr lange, haben intensiv über das Genre des Krimis diskutiert und uns auf den Plot geeinigt. Zu jeder Szene hat jeder von uns eine Version geschrieben und die besten haben wir übernommen“, so der Autor. Das Stück ist jetzt randvoll mit ihren Obsessionen, dennoch spricht Spregelburd von einem „vierten Autor“. Der verrätselte Titel verweist auf die falschen Maßstäbe, mit denen hier geurteilt wird. „Die Verhältnisse sind aus den Fugen. Was banal und geringfügig ist, wird zum Riesenproblem und umgekehrt“, so Spregelburd.

Alle drei haben das Stück auch gemeinsam inszeniert, und Spregelburd steht dazu noch als Schauspieler auf der Bühne: „In Argentinien ist das ganz normal.“ Die übrigen Darsteller stammen alle aus der gemeinsam besuchten Schule. „Es mussten besondere Darsteller sein, die das Delirium spielen können, ohne in Realismus zu verfallen“, erzählt er. Trotz des ernsten Hintergrundes wird es mit Sicherheit auch wieder ein sehr komischer Abend.

Der Argentinier ist der Ansicht, dass man heute der Wirklichkeit sowieso nur noch mit dem hybriden Genre der Komödie beikommen kann. „Die Tragödie korrespondiert mit einem evolutionären Prozess der Zerstörung, der durch Kausalität verknüpft ist. Heute gibt es diese Kausalitäten nicht mehr. Es herrscht das Chaos. Das Schicksal des Menschen ist nicht tragisch, sondern von der Katastrophe her bestimmt“, so Spregelburd. Er hält es ganz mit Beckett, der auch nur Komödien geschrieben hat. „Das ändert nichts an der Traurigkeit des Erzählens“, wird der Autor plötzlich melancholisch. „Wir haben eine Komödie geschrieben, aber die Geschichte ist sehr traurig.“

heute und morgen, je 20 Uhr, Neues Cinema (Steindamm 45)