Von Friedrichshain nach Gorzów

Deutsch-polnische Firmengründungen sind noch immer etwas Exotisches. Vor allem in Berlin, der angeblichen Ost-West-Drehscheibe. Anders als die deutsche Hauptstadt haben Brandenburg und Sachsen die Chancen ihrer Grenzlage erkannt. Eine Erkundung in die Woiwodschaft Lubuskie

Berlin spielt in der Grenzregion eine viel größere Rolle als umgekehrtIn Gorzów erobert ein Friedrichshainer Unternehmer den Markt

von UWE RADA

Wo, zum Teufel, liegt Gorzów Wielkopolski? So mancher Berliner kennt die Hauptstädte der 16 deutschen Bundesländer, aber wie steht es um die Hauptstadt der grenznahen Woiwodschaft Lubuskie? Wie heißt die Woiwodschaft, deren Hauptstadt Szczecin/Stettin ist? Welche weitere Woiwodschaft grenzt an Deutschland?

In Geografie sind die Berliner schlecht, vor allem, wenn es um den Osten geht. Ganz anders dagegen sieht es in Polen aus. Die Stettiner fliegen schon lange von Tegel in den Urlaub, in Poznań weiß man, dass die deutsche Hauptstadt näher liegt als Warschau, und in Gorzów produzieren die Betriebe für den deutschen Markt. „Die Erwartungen, Hoffnungen und Enttäuschungen der Polen an Berlin“, sagt Michael Stoll, „sind offenbar größer, als wir uns das hier vorstellen können.“

Stoll ist in der Berliner Stadtentwicklungsverwaltung, wenn man so will, der Geografielehrer. Aus dem Stand spricht er über Kennziffern und Wirtschaftsdaten in Polen, kennt die Verkehrsverbindungen oder das, was von ihnen übrig geblieben ist, weiß, dass in Gorzów, als es noch Landsberg an der Warthe hieß, Christa Wolf geboren wurde. Dass Stoll auf der letzten Sitzung des Stadtforums im Oktober zum Thema „Berlin aus Sicht von Westpolen“ den Eröffnungsbeitrag hielt, war deshalb auch eine Art Selbstkritik. „Wir vermuten, die Stadt an der Spree spielt für Polen eine größere Rolle, als uns noch überwiegend Westorientierten hier bewusst ist.“

Vielleicht kam Stoll aber auch nur der Kritik von Zenon Kamysz-Kosiniak zuvor. „Noch vor drei oder vier Jahren war Berlin für uns das wichtigste der fünf neuen Bundesländer“, sagt der polnische Handelsrat mit Sitz in Berlin. „Mittlerweile haben aber Brandenburg und Sachsen ihre Chancen besser genutzt.“

In der Tat ist der Anteil Berlins am Export und Import zwischen Deutschland und Polen im Vergleich zu den anderen Bundesländern deutlich zurückgegangen, von 2,87 auf nunmehr 1,82 Prozent. Spitzenreiter sind dagegen Nordrhein-Westfalen mit 28 Prozent, Niedersachsen mit 15 und Bayern mit knapp 12 Prozent.

Die Aufholjagd, die in der gleichen Zeit in Brandenburg und Sachsen begonnen hat, wird in Polen inzwischen honoriert. So genießt der Ausbau der A 4 zwischen Wrocław und Cottbus inzwischen Priorität gegenüber der A 2 von Berlin über Poznań nach Warszawa, berichtet das Vorstandsmitglied der Woiwodschaft Niederschlesien, Grzegorz Roman. Der Grund: „Vierzig Prozent des grenzüberschreitenden Verkehrs in Polen gehen über Niederschlesien.“

Es sind Meldungen dieser Art, die Michael Stoll dringenden Handlungsbedarf signalisieren. „Wir müssen das Thema Osterweiterung viel mehr noch als bisher unter dem Thema Chancen statt Risiken diskutieren“, sagt Stoll und erinnert daran, dass mit Stettin, Posen und Breslau allein drei polnische Großstädte mit jeweils einer halben Million Einwohner im Umkreis von 300 Kilometern von Berlin entfernt liegen. 300 Kilometer sind für Stoll deshalb eine entscheidende Entfernung, weil in diesem Radius auch Geschäftskontakte innerhalb eines Tages realisiert werden können.

Auch in Gorzów Wielkopolski. 136 Kilometer von Berlin entfernt, liegt die Hauptstadt der Woiwodschaft Lubuskie mit ihren 130.000 Einwohnern auf halbem Wege nach Posen. Für die Volkswagen Elektro-Systeme, eine gemeinsame Tochter von VW und Siemens, ein beinahe idealer Standort. 2.300 Beschäftigte produzieren hier zu polnischen Löhnen Bordnetze und Kabelbäume für die Endproduktion in Wolfsburg. „Die Auslagerung von personalintensiven Fertigungsschritten ist eines der wesentlichen Motive für die Gründung von Tochterunternehmen in Polen“, sagt Holger Köhn. „Ein anderes Beispiel in Gorzów ist die Firma Hugo Boss, die hier ihre Anzüge und Hosen nähen lässt.“

Köhn ist Projektleiter und einer von 30 Mitarbeitern der Deutsch-Polnischen Wirtschaftsförderungegesellschaft TWG in Gorzów. Als einzige binationale Wirtschaftsförderung hat sich die TWG darauf spezialisiert, sowohl deutschen Unternehmen bei Investitionsvorhaben in Polen als auch umgekehrt zu unterstützen. Köhn spricht von einem Vorteil für beide Seiten. „Die Deutschen sparen Lohnkosten, die Polen senken ihre Arbeitslosenquote.“

Über 8.000 Unternehmer, die meisten davon kleine und mittlere, hat die TWG seit ihrem Bestehen in den vergangenen fünf Jahren betreut, 60 Prozent aus Deutschland, 40 Prozent aus Polen. Eines davon ist die Firma Bewican in Witnica. In Zeiten des Baubooms in Berlin lagerte die Fensterbaufirma aus Friedrichshain einen Teil ihrer Produktion in das nahe Gorzów gelegene Städtchen im Warthebruch aus. Eine Entscheidung, die sich auch nach der Krise in der Bauwirtschaft auszahlt. Nun organisiert das polnische Tochterunternehmen in Witinica den Absatz der Bewican-Fenster in Polen. Und der Bürgermeister von Witnica, das von 560 Investitionsstandorten in Polen nach einer Umfrage immerhin Platz 36 belegt, freut sich über den deutschen Steuerzahler.

Doch auch bei den Wirtschaftsförderern in Gorzów weiß man, dass es mit den Berliner Wirtschaftsverbindungen nach Polen nicht allzu gut steht. „Der Berliner Anteil der Firmen, die zu uns kommen, liegt bei 10 Prozent, Tendenz rückläufig“, sagt TWG-Projektleiter Holger Köhn. Ansteigend ist sie dagegen bei den Brandenburger Firmen. Sie haben mit 12 Prozent die deutsche Hauptstadt mittlerweile überholt.

Für den polnischen Handelsrat Zenon Kamyz-Kosiniak ist auch das ein Anlass, Alarm zu schlagen. „Ich würde mich freuen, wenn sich der Marschall der grenznahen Woiwodschaften auch mal mit dem Berliner Wirtschaftssenator oder Regierenden Bürgermeister trifft, und nicht immer nur mit dem Brandenburgischen Ministerpräsidenten Manfred Stolpe. Das klingt fast ein bisschen wie eine Mahnung, die Geografie der Stadt und ihre Lage im Grenzgebiet zu Polen anzuerkennen.

Doch eines können auch Stoll und Kamysz-Kosiniak mit ihren Plädoyers für eine neue Wirtschaftsgeografie nicht: die politische Geografie außer Kraft setzen. „Viele Unternehmer würden sehr viel mehr in Polen produzieren, wenn die fertigen Produkte etwa innerhalb eines Tages nach Deutschland reimportiert werden könnten“, sagt TWG-Projektleiter Holger Köhn. Doch das sei wegen der Lkw-Staus an den Grenzen vorerst nicht in Sicht. Und auch die Bemühungen, die Lkws in Polen, zum Beispiel in Rzepin, zu plombieren und auf der Schiene nach Frankfurt (Oder) zu bringen, hatten bislang wenig Erfolg. Keine Gewinnaussichten, heißt es dazu bei der Deutschen Bahn.

Manfred Stoll, Zenon Kamysz-Kosiniak oder Holger Köhn sind nicht zu beneiden. Vor allem nicht, wenn sie sich tatsächlich einmal auf den Weg von und nach Gorzów machen. Vor einiger Zeit nämlich hat die Deutsche Bahn die einzige Direktverbindung zwischen Berlin und der nächstgelegenen polnischen Woiwodschaftshauptstadt eingestellt. Der Grund: Für viele Polen war die Verbindung allzu gewinnträchtig. Als Schmuggler und Pendler hatten auch sie versucht, das Versprechen von den Win-win-Situationen beim Wort zu nehmen. Nun müssen die Pioniere der Berliner Geografie in Kostrzyn umsteigen. Nur, wo liegt Kostrzyn?