Die Neuerfindung des Kapitalismus

betr.: „Den Kapitalismus neu erfinden“, taz.mag vom 3. 11. 01

Die Grünen und Sozialdemokraten wollen uns glauben machen, dass Menschenrechte mit Bomben auf die Bevölkerung durchzusetzen sind, und die taz will uns unterjubeln, dass Armut auf „sozialrevolutionärem Wege des Kapitalismus“ zu überwinden ist.

Zum Beispiel Vietnam im taz.mag-Beitrag: Die Durchschnittswerte der Weltbank über Armut und Bildung sind irreführend, auch wenn die indische Ökonomin Nisha Agrawar als Kronzeugin bemüht wird. Nach der Logik vom Durchschnitt kann man durchaus in einem Fluss von durchnittlich 50 Zentimetern Tiefe ertrinken. Die Schere zwischen dem Einkommen der neuen Unternehmer in Wirtschaft und Partei und der Landbevölkerung beträgt im „Durchschnitt“ über 400 Prozent.

Die terziäre Bildung ist dank privater Schulen und Universitäten gestiegen, weil eben die Neureichen das hohe Schulgeld und die enormen Studiengebühren für ihre Kinder zahlen können. Die abgefallene Qualität und der geschrumpfte Besuch der Grundschulen werden von Georg Blume verschwiegen. Auf dem Lande nehmen Eltern ihre Kinder nach drei Jahren von der Schule, um sie für die Sicherung des Existenzminimums auf dem Reisfeld oder dem Dorfmarkt einzuspannen.

Wer ist nicht für die „Entfesselung des Privatsektors“ (G. Blume), aber bitte für die Verbesserung von Einkommen und Wohlfahrt für alle. An der Dialektik von entfesseltem Profitinteresse und der Einbindung ins Gemeinwohl kommt niemand vorbei, der sich für die Bekämpfung von Armut einsetzt. Aber in Vietnam sitzen diejenigen, die sich für die probaten Mittel von Gewerkschaften und sozialen Initiativen einsetzen, im Gefängnis oder werden kaltgestellt. Ohne politische Freiheit, faire wirtschaftliche Chancen, soziale Sicherheit und Transparenz wirtschaftlicher und politischer Abläufe lässt sich keine Armut überwinden. Das vertritt ein anderer indischer Ökonom, Amartya Sen, wofür er zu recht den Nobelpreis erhalten hat. HEINZ KOTTE, Köln