Krieg ohne Hitler

Der Einsatz von Bundeswehrsoldaten in Afghanistan wird erstmals ohne Rückbezug auf die Vergangenheit diskutiert. Damit ist die deutsche Normalisierung abgeschlossen

„Erwachsenwerden“ – diese Formel machtdie Bewältigung derVergangenheit zur pubertären Phase

Stellen wir uns einen Moment lang vor, das World Trade Center wäre am 11. September 1997 in Schutt und Asche gefallen. Die Kohl-Regierung hätte, gefolgt von der rot-grünen Opposition, ihre „uneingeschränkte Solidarität“ mit den USA erklärt. Als der Kanzler allerdings den USA immer wieder einen Bundeswehreinsatz in Afghanistan anbot, zerbrach der Konsens. Grüne und SPD argumentierten, dass der Einsatz der Bundeswehr aus historischen Gründen nicht infrage kommt. Noch im Golfkrieg 1991 habe Kohl mit Verweis auf die NS-Geschichte eine Bundeswehrbeteiligung abgelehnt – sein jetziges Verhalten zeige, wohin Geschichtsvergessenheit führe und dass Normalisierung Militarisierung bedeute.

Dieses Szenario erscheint uns wie ein Relikt einer anderen Epoche. Warum? Weil Kohl eine abgetakelte Figur ist und ein Regierungswechsel stattgefunden hat. Doch der Abgrund, der zwischen unserer Wirklichkeit und diesem Szenario klafft, ist tiefer: Die Argumentationsmuster erscheinen veraltet. 2001 ist die NS-Zeit als politischer Bezugsrahmen verschwunden.

Die Diskussionen in den 90ern wurden, vom Golfkrieg 1991 über die Jugoslawienkriege bis zum Kosovo-Einsatz 1999, stets von deutschen Geschichtsdebatten flankiert. Aus dem Rückgriff auf die NS-Vergangenheit ließen sich rhetorische Waffen schmieden. Umgekehrt waren diese Kriege Projektionsflächen, auf denen die Frage verhandelt wurde, wer ein guter, geschichtsbewusster Deutscher ist: jemand, der für den Krieg an der Seite der USA gegen den irakischen oder jugoslawischen Diktator votierte – oder jemand, der mit Blick auf Hitler eine deutsche Beteiligung am Krieg ablehnte. Diese Debatten sind erst ein paar Jahre her und doch eine Ära entfernt. Heute rechtfertigt noch nicht mal die PDS, die sonst keine Gelegenheit auslässt, den Antifaschismus ins Feld zu führen, ihre Kritik am Krieg mit den Lehren der NS-Vergangenheit.

Das ist erstaunlich, zumindest erklärungsbedürftig. Man darf zweifeln, dass sich die Abwesenheit der NS-Vergangenheit einfach aus der Sache selbst ergibt. Gewiss, Afghanistan ist weit weg, anders als in Jugoslawien standen dort vor 60 Jahren keine Wehrmachtsoldaten, der „Krieg gegen den Terror“ lässt sich kaum an den Zweiten Weltkrieg rückbinden, und der Feind ist schon bildlich schwer mit der Nazizeit zu assoziieren.

Aber diese Erklärung reicht nur begrenzt. Denn die Verknüpfung aktueller Kriege mit der NS-Zeit war stets konstruiert. Die Vergleiche mussten nicht sachlich plausibel sein, um als Argument zu gelten. Enzensberger erklärte 1991 Saddam Hussein zu Hitlers Widergänger – auch wer das für Unfug hielt, bezog sich darauf, um dieser Sicht eine andere Geschichtsdeutung entgegenzuhalten. Joschka Fischer rechtfertigte 1999 kurzzeitig den Kosovokrieg damit, dass es der Auftrag seiner Generation sei, ein zweites Auschwitz zu verhindern – obwohl, was an Schrecken im Kosovo geschah, nichts mit industriellem Massenmord zu tun hatte.

Die Afghanistan-Debatte zeigt, dass solche Vergleiche überflüssig geworden sind. Das ist Indiz eines fundamentalen Umbruchs: Die Nachkriegszeit ist endgültig vorbei. Was am 9. November 1989 begann, ist jetzt vollendet: die Normalisierung Deutschlands. Damit ist auch die rhetorische Nutzung der NS-Zeit stillgelegt.

Das geräuschlose Verschwinden der NS-Zeit aus der politischen Tagesaktualität wäre ohne Rot-Grün nicht möglich gewesen. Denn ein Motor der Vergangenheitsbewältigung war stets der Verdacht, dass die reibungslose Integration der Eliten der NS-Zeit ein fortwirkender Geburtsschaden der Demokratie ist, dass den Konservativen und „dem Staat“ jede Verdrängung zuzutrauen war. Als Rot-Grün 1998 die Macht übernahm, war diese Mechanik ausgesetzt. Mit Fischer und Schröder begann symbolisch jene Generation zu regieren, die durch den bundesrepublikanischen Antifaschismus geprägt war. Nur Rot-Grün konnte die Beteiligung am Kosovokrieg so reibungslos durchsetzen. Nur eine über jeden Zweifel der Verdrängung erhabene Regierung konnte wirksamer Agent der Normalisierung werden.

Nicht einmal die PDS begründet ihrNein zum Kriegmit den Lehren aus der Nazizeit

In diesem Prozess ist Politik nur ein Teil. Es geht um eine veränderte gesellschaftliche Haltung zur Vergangenheit. Dieser Prozess hat nichts mit jenem Schlussstrich zu tun, den die deutsche Rechte seit dem 9. Mai 1945 vergeblich forderte. Hier wird nichts verdrängt, nichts Sperriges beseitigt, das sich nicht ins eigene Selbstbild fügt – im Gegenteil. Die Deutschen haben den Holocaust nach und nach symbolisch in ihr Selbstbild integriert. Dieser Prozess ist nun an allen Fronten an ein Ende gekommen. Das Jüdische Museum in Berlin ist eröffnet, mit der Entschädigung der NS-Zwangsarbeiter ist die letzte realpolitisch offene Rechnung des Zweiten Weltkrieges beglichen. Das Holocaust-Mahnmal in Berlin wird gebaut – und man darf vermuten, dass es „Auschwitz“ als Synonym für deutsche Schuld ersetzen wird. Das macht einen symbolischen Unterschied ums Ganze: Anders als „Auschwitz“ bezeichnet das Mahnmal nicht nur Schuld, sondern auch deren aktive Annahme: dass nämlich die deutsche Gesellschaft diese Schuld in ihre Selbstrepräsentation übernommen hat.

Damit scheinen auch jene typischen Geschichtsdebatten zu verschwinden, die charakteristisch für die Bundesrepublik waren und von Bitburg über den Historikerstreit 1986, vom 50. Jahrestag der Befreiung 1945 bis zur Wehrmachtsausstellung, von der Goldhagen- bis zur Bubis-Walser-Debatte reichten. All diesen Diskussionen lag zugrunde, dass die Haltung zur NS-Zeit „skandalisierbar“ war. Diese Debatten entstanden mehr oder weniger spontan: Es waren Selbstvergewisserungen, in denen ausgemessen wurde, wie weit die Gesellschaft vom Postfaschismus entfernt war.

Auch das scheint vorbei zu sein – die NS-Zeit hat als Prisma, durch das sich die Gesellschaft selbst betrachtet, ausgedient. Hitler taugt nicht mehr zum Skandal. Indiz dafür war die Spiegel-Serie 2001, der öffentliche Aufmerksamkeit weitgehend versagt blieb. Auch das Plakat des Mahnmal-Förderkreises: „Der Holocaust hat nie stattgefunden“ kann man so deuten. Es war ein kurzatmiger Versuch, einen Skandal zu provozieren, eine kokettes Spiel mit einem Tabubruch. Es war der Versuch, zu inszenieren, was sich nicht mehr spontan einstellt.

Die Geschichtsdebatten hatten in den 90ern, unbeabsichtigter Effekt, Signalwirkung für das Ausland. Sie zeigten, dass sich die Öffentlichkeit im wiedervereinigten Deutschland fast gierig mit der NS-Zeit befasste. Zur Wendezeit meldeten die politischen Klassen vor allem in Großbritannien und Frankreich Vorbehalte gegen die deutsche Vereinigung an – das „Vierte Reich“ war damals eine gängige Vokabel. Die historischen Debatten galten als Beleg dafür, dass das wiedervereinigte Deutschland selbstreflexiv auf die NS-Zeit schaute – genauso wie in der alten Bundesrepublik. Wenn aber Selbstkritik so selbstverständlich war, gab es da noch Grund, die militärische Normalisierung Deutschlands zu fürchten?

„Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“ – dieser Satz aus dem Talmud, tausendfach von deutschen Politikern zitiert, scheint in Erfüllung gegangen zu sein – allerdings anders als gedacht. Gemeint war dieses Zitat als Pathosformel, als Mahnung, nicht zu vergessen. Jetzt ist es deutsche Selbstbeschreibung: Die Vergangenheit, die nicht vergehen wollte, ist in Erinnerungssymbolik erlöst – und damit zur Geschichte geworden. Niemand wollte es, deshalb ist es gelungen. Das ist die Schlusspointe der bundesdeutschen Vergangenheitsbewältigung.

Kanzler Schröder will nun also 3.900 Bundeswehrsoldaten nach Afghanistan schicken – eine Demonstration neudeutscher Normalität. Die rot-grüne Lieblingsvokabel für diesen Zustand lautet: Wir sind erwachsen geworden. In dieser Metapher wird die alte Bundesrepublik, ihre pazifistische Grundstimmung, ihre Kultur der Vergangenheitsbewältigung und ihre außenpolitische Machtferne nicht nur zur Vorgeschichte des Jetzt – sie erscheint als eine Art pubertärer Verirrung, die nun endlich überwunden sei.

In den 90ern erlaubten Kriege dieFrage, wer ein guter, geschichtsbewusster Deutscher war

Diese Lesart ist aller Historisierung und Normalisierung zum Trotz ein Kurzschluss: „Erwachsen“ zu werden heißt nicht militärische Potenz und Geringschätzung des Zivilen. Leute, die auf ihr Erwachsensein so stolz sind, verdienen fast schon wieder Misstrauen.

STEFAN REINECKE