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Zurück zu den Ökowurzeln!

Es steht nicht gut um das rot-grüne Regierungsprojekt, ein Jahr vor den nächsten Bundestagswahlen. Und das liegt in allererster Linie am kleinen Ökopartner: Die Grünen haben, politisch wie symbolisch, viel von ihrer Faszination als Umweltpartei eingebüßt. Sie werden zusehends aufgerieben zwischen der FDP und der SPD. Und das ist schlecht so. Eine sozialdemokratische Kritik

von HERMANN SCHEER

Die Bundestagswahl 2002 wirft nicht nur wegen der Kanzlerkandidatendiskussion der Union ihre Schatten voraus. Die wesentlich spannendere Frage ist die der Regierungsbildung nach dieser Wahl, die Gerhard Schröder kürzlich in die Worte kleidete, die SPD sitze wie der Fuchs vor dem Loch zur Regierungsmacht und keiner komme auf dem Weg dahin an ihr vorbei – offen ist also nur, wen sie daran teilhaben lassen muss oder will: die Grünen, die FDP, beide zugleich oder die Union, da ein Mitregieren der PDS unwahrscheinlich bleibt.

Weil die Entwicklung des Afghanistankriegs nicht vorhersehbar ist, bleibt offen, ob es nicht gar wegen einer deutschen Mitwirkung zu einem jähen Abbruch des rot-grünen Regierungsprojekts kommt. Doch nach dem wahrscheinlicheren Stand der Dinge werden SPD und Grüne die Legislaturperiode gemeinsam durchstehen – und im Wahlkampf auf Fortsetzung der Koalition setzen. So würde es dann wohl auch geschehen – wenn das Wahlergebnis dafür reicht.

Nur ein Prozent Verlust der Koalitionsparteien, gleich zu wessen Lasten, würde die Fortsetzung jedoch unmöglich machen. Dass ein solcher Verlust eher durch Stimmeneinbußen bei den Grünen einzutreten droht, ergibt sich aus den Erfahrungen der Landtagswahlen seit 1998 und aus der existenziellen Diskussion um ihre Identität, die sie durchzieht.

Die Zukunft der Grünen geht nicht nur diese selbst an, sondern mindestens auch alle Sozialdemokraten, die aus einem prinzipiellen Grund für die Fortsetzung des rot-grünen Projekts sind: wegen des unbedingten Votums für eine ökologische Politikorientierung. Diese kann zwar keine exklusive Domäne der Grünen sein. Aber jede Partei hat ein elementares Identitätsmerkmal, dem es ihren Aufstieg und ihre Rolle verdankt und das sie nur bei Strafe des Bedeutungsverlustes oder gar Untergangs vernachlässigen oder preisgeben darf. Bei den Grünen ist dies die ökologisch ausgerichtete Politik – unabhängig davon, ob dies den politischen Vorlieben einzelner oder vieler grüner Politiker entspricht oder nicht. Möglicherweise wären sie ohne das Eigenschaftswort „grün“, das für globale Lebens- und Naturbewahrung steht und sogar zum Parteinamen wurde, nie zu einer seit zwei Jahrzehnten in fast allen Parlamenten wirkenden politischen Kraft geworden.

Ökologische Politik ist wesentlich mehr als traditioneller Naturschutz: Es ist der Versuch einer tatsächlich nachhaltigen, also dauerhaft möglichen Entwicklung der Gesellschaft und ihrer Wirtschaftsformen – ausgehend von einem generationsübergreifenden und universalen freiheitlichen Humanismus. Ökologie meint – und dafür standen die Grünen einst wie keine Partei sonst – die Wiederherstellung der Zusammenhänge, den Bruch mit linearen Wachstumsentwicklungen und mit einem die Gegenstände isoliert betrachtenden Fortschrittsdenken, das die von ihm produzierte Beschädigung und Zerstörung von Lebensgrundlagen aus dem Auge verloren hat und das zu Recht als existenzielle Gefährdung wahrgenommen wird.

Eine Marginalisierung der grünen Partei, gar ihr Ausscheiden aus dem Parlament wäre ein empfindlicher Rückschlag für die ökologische Politikorientierung insgesamt. Dies gilt sogar unabhängig davon, ob die Grünen der ihnen zugedachten Rolle im Parteienspektrum tatsächlich entsprechen. Einen Vorgeschmack darauf lieferte bereits der Ausgang der Bundestagswahl 1990: Weil die Grünen im Vereinigungsjahr wegen der aktuellen Verschiebung der öffentlichen Aufmerksamkeit bundesweit an der Fünfprozenthürde scheiterten, verloren auch die in den Achtzigerjahren in der SPD entwickelten Ansätze zu ökologischer Politik spürbar an Gewicht – ganz zu schweigen von denen anderer Parteien.

Der kommende Bundestagswahlkampf wird aus zwei Sonderwahlkämpfen bestehen: aus dem zwischen SPD und Union und aus dem zwischen Grünen und FDP – wobei die Rolle der PDS darin besteht, SPD wie Grünen gemeinsamen Erfolg zu erschweren. Letzteres kann auch umgekehrt formuliert werden: SPD wie Grüne könnten aufgrund nachlassender sozialer, ökologischer und friedenspolitischer Überzeugungskraft leichtfertig die Erfolgsaussichten der PDS verbessern – mit weitreichenden Konsequenzen.

Für die Grünen – und damit das rot-grüne Projekt – ist jedoch vor allem entscheidend, in welcher Weise sie ihren Wahlkampf gegen die FDP führen. Überholte diese die Grünen und stünde dann mehrheitstechnisch nur noch die Möglichkeit einer rot-gelben oder einer Ampelkoalition zur Verfügung, hätte die eine Option einschneidende Konsequenzen für die Zukunft der SPD und die andere noch einschneidendere für die Grünen: In einer Phase, in der die sozial und ökologisch verheerenden Wirkungen des neoliberalistischen Wirtschaftsdogmas – also des Vorrangs der global angelegten Marktfreiheit vor sozialer Gestaltung und Umwelterhaltung – immer offenkundiger werden, würden SPD und Grüne in den beiden genannten Optionen einer Regierungsbeteiligung der FDP in deren Rolle als Priesterin neoliberalen Heils aus kurzfristigen Machterhaltungsgründen davon abgehalten, eine überfällige Perspektive jenseits dieses Neoliberalismus zu entwickeln.

Für die SPD, auch nur in ihrer zentralen Identität als soziale Gerechtigkeitspartei, ist es also keineswegs relativ gleichgültig, wer ihr künftiger Regierungspartner ist. Die Wiedergewinnung der sozialen Gestaltungskraft politischer Institutionen dürfte an der Seite der FDP kaum möglich sein. Aus schierem Eigeninteresse muss sie in der praktischen Regierungspolitik vor allem die ökologische Integrität der Grünen respektieren. Dies gilt erst recht, wenn sie die umfassende soziale Bedeutung ökologischer Wirtschaftsweisen beachten will – also trotz ihrer vielfach notwendigen Rücksichtnahme auf eingespielte Interessen über diese hinausdenken muss, um ihren Grundwerten weiter entsprechen zu können.

Ob die sozialdemokratische Respektierung der Rolle der Grünen zu deren politischer Genesung und zur Fortführung der rot-grünen Koalition ausreicht, hängt jedoch überwiegend von ihnen selbst ab: Gehen sie in den Wettbewerb um die dritte Kraft als Spielart marktliberaler New Economy, die dabei lediglich dem Umweltgedanken näher steht – oder eben als Partei eines tatsächlich neuen ökonomischen Denkens, einer politischen Ökologie und damit als prinzipielle Alternative zur FDP? Wollen sie nicht mehr sein als eine „grüne FDP“, laufen sie Gefahr, statt zur dritten zur fünften Kraft zu werden.

Die parlamentarische Existenz der Grünen geht bekanntlich auf die Umwelt-, Frauen- und Friedensbewegungen der Siebziger- und Achtzigerjahre zurück, die sich im Dreiparteiensystem von SPD, Union und FDP nicht mehr repräsentiert sahen. Dabei war schon die Gründung der Grünen von Warnungen begleitet, dass diese zu viele ihrer Kräfte binden werde, was zu Lasten der verlangten neuen Politikinhalte gehen müsse.

Der Friedensaktivist Wolfgang Sternstein schrieb 1978 in einem Artikel (in der Zeitschrift Kritik) zur Frage „Brauchen wir eine Grüne Partei?“, dass die etablierten Parteien alles daransetzen würden, diese wieder „aus dem Ring zu schlagen. Gelänge es ihnen, wäre womöglich sogar die Ökologiebewegung erledigt. Gelingt es ihnen nicht, dann werden die Grünen in dieser harten Schule das Boxhandwerk so rasant und gründlich erlernen, dass sie ihren Gegnern schon nach kurzer Zeit zum Verwechseln ähnlich sehen werden.“ Gleichwohl ist es ein überzogener Anspruch, die Grünen daran zu messen, ob sie ihrem anfänglichen Grundmuster noch entsprechen.

Dieses war alles andere als konsistent, auch in ökologischer Hinsicht. Hinzu kam, dass die Grünen auch zum Sammelbecken derjenigen wurden, die in den Siebzigerjahren mit ihren linkskommunistischen oder anarcholibertären Versuchen gründlich gescheitert waren und in den Grünen eine zweite oder dritte Chance für einen neuen politischen Anlauf sahen – und zur ökologischen Rolle der Grünen eher ein taktisches Verhältnis hatten. Dass die Grünen ihre basisdemokratisch genannten Grundregeln, das Rotationsprinzip oder die Trennung von Amt und Mandat, hinter sich lassen, ist eine die eigene Handlungsfähigkeit und ebenso basisdemokratisch begründbare Notwendigkeit. Dass sie ihre Positionen zur strikten internationalen Gewaltfreiheit überprüfen, ist kein friedenspolitischer Verrat. Ihr eigentliches Kernproblem ist von Carl Améry, dem Mitbegründer der Grünen, ausgedrückt worden: das Versäumnis in den Neunzigerjahren, in der ökologischen Programmatik „ihre intellektuellen Batterien“ aufzuladen.

Dass Meinungsführern der Grünen die Rolle als Umweltpartei zu eng wurde („wir wollen nicht nur Umweltschutzpatei sein“), unter anderem weil sie zu der Auffassung gelangten, diese Thema sei „out“ und nicht mehr tragfähig, ist nur mit diesem Versäumnis erklärbar. Versteht man einen ökologischen Ansatz nur als klassischen Umweltschutz, also als ein politisches Ressortthema unter mehreren, wäre es tatsächlich zu eng für eine Partei. Versteht man es aber als umfassend angelegte Überwindung der wirtschaftlichen Strukturen, die die Gesellschaft zur Geisel einer gesellschafts-, umwelt- und kulturzerstörenden isolierten Wachstums- und Fortschrittsdynamik macht, dann ist die Ökologie ein übergreifendes Thema.

Es ist das Jahrhundertthema, das relativ immun gegen die vielen Meinungskonjunkturen der Mediengesellschaft ist. Aus diesem leiten sich neue wissenschaftliche, wirtschaftliche, kulturelle, umwelt-, außen- und sicherheitspolitische Leitlinien ab. Ökonomie wird dabei zum Unterfall der Ökologie. Naturgesetze – die wir nicht straflos auf Dauer missachten können – haben dabei Vorrang vor Marktgesetzen oder anderweitigen wirtschaftlichen Ordnungsvorstellungen. Wirtschaftliche Entwicklungen – von der Liberalisierung des Welthandels bis zu den uferlosen Konzentrationsprozessen – müssen sich danach beurteilen lassen, ob sie die Strukturen einer unökologischen Ökonomie verfestigen oder Spielräume zu einer ökologischen Ökonomie öffnen.

Einiges grundsätzlich in Frage zu stellen gehört dazu. Als unabänderlich hinzunehmen sind nicht: die gegenwärtig laufenden Prozesse der transnationalen privatwirtschaftlichen Zentralisierung der gesellschaftlichen Infrastrukturen – der Strom-, Wasser-, und Verkehrsnetze, der Nahrungsmittelversorgung – und der Konzentration der fossilen Ressourcenwirtschaft, die immer weiter wegführen von nur dezentral organisierbaren ökologischen Kreisläufen.

Mit einem solchen Jahrhundertthema mehr als alle anderen Parteien identifiziert zu werden, es relativ unbehindert von Interessenverbänden und frei von den innerhalb der SPD notwendigen Rücksichtnahmen artikulieren zu können, das ist ein politisches Gottesgeschenk für eine Partei, gar für eine kleinere. Eines, das eine dauerhafte Existenz in diesem Jahrhundert garantiert. Ebenso wie die Rolle, zu verhindern, dass im politischen Institutionensystem eine uferlose Zentralisierung der Entscheidungskompetenzen stattfindet, die demokratische Handlungsspielräume zusehends erstickt zu Lasten der Revitalisierung dezentraler Wirtschaftskreisläufe, ohne die sich eine Perspektive ökologisch nicht realisieren lässt.

Was man bei den Grünen vermisst, ist die offensive Kreation solcher politischen Leitlinien. Dass deren Realisierung zahlreiche Kompromisse erfordert, ist vermittelbar. Weniger vermittelbar ist jedoch, dass Kompromisse schon als Königsweg dargestellt werden. Für die vielfach eingebundene SPD mag die Methode der allseitigen Konsenssuche unvermeidlich sein – aber für die Grünen doch nicht und schon gar nicht im Vorfeld jeder Debatte!

Die Ansätze zur Mobilisierung neuer Energieformen, die seit 1998 gemacht wurden, vor allem das weltweit bisher einzigartige Gesetz zu erneuerbaren Energien, waren nur in einer rot-grünen Konstellation möglich. Die Grünen sollten dies im Wahlkampf gebührend hervorheben. Sie müssten dies aber vor allem in klarer Abgrenzung von der FDP tun, die weit mehr als die Unionsparteien gegen all diese Initiativen war – so dass im Fall einer rot-gelben Koalition ein Abbruch dieser Initiativen droht.

Keine Partei ist ökologisch so ignorant wie die FDP. Bewusst ist dies der Öffentlichkeit nicht. Warum? Weil die Grünen – ausgerechnet – diesen Gegensatz zur FDP kaum zum öffentlichen Thema machen. So konnte bei vielen Wählern der Eindruck entstehen, die Ökopartei – welch Widersinn! – hätte die Leidenschaft für das ökologische Jahrhundertthema verloren.

Dieser Eindruck ist die eigentliche Gefahr für das rot-grüne Projekt.

HERRMANN SCHEER, Jahrgang 1944, seit 1980 Bundestagsabgeordneter der SPD, bekam 1999 den Alternativen Nobelpreis für sein energiepolitisches Engagement zugesprochen.

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